In der Märzausgabe des ARZNEIMITTELBRIEFS haben wir in einer
Kleinen Mitteilung „Therapie mit Statinen: akzeptables Risiko und deutlicher
Nutzen bei adäquater Indikation“ (1) über einen in Lancet erschienenen,
umfangreichen Übersichtsartikel des Population Health Department der
Universität Oxford (mit zahlreichen britischen und US-amerikanischen
Ko-Autoren) zum Nutzen-Risiko-Verhältnis von Statinen berichtet (2). In Form
einer kleinen Tabelle zitierten wir eine beispielhafte Rechnung zum
Nutzen-Risiko-Verhältnis einer Senkung des LDL-Cholesterins (LDL-C) mit
Statinen. Da uns zu dieser Übersichtsarbeit im Lancet mehrere Leserbriefe
erreichten, wollen wir uns nochmals und ausführlicher der Thematik widmen.
Hauptkritikpunkt unserer Leser war, dass die Publikation
einen – nicht evidenzbasierten – Nutzen einer Titrierung des LDL-C-Spiegels nach dem Prinzip
„the lower (LDL-C) the better (the outcome)“ sowohl in der Sekundär- als auch
in der Primärprävention suggeriere.
Tatsächlich stützen sich die Autoren in ihrer Argumentation
für den Nutzen einer Statin-Therapie (sowie auch in der exemplarischen und
stark vereinfachten Berechnung, die unserer Tabelle zugrunde liegt und in der
nicht erwähnt wurde, dass sich die Zahlen zur Primärprophylaxe auf Personen mit
hohem Risiko bezieht) ausschließlich auf die 2010 publizierte große Metaanalyse
der Cholesterol Treatment Trialists‘ (CTT) Collaboration (3) und deren
Folgepublikationen. Die Metaanalyse der CTT hatte zunächst Daten aus 26 Studien
(21 zu Statin vs. Kontrolle, n = 129.526; 5 zu intensiver vs.
nicht-intensiver LDL-C-Senkung, n = 39.612) analysiert und war zum
Schluss gekommen, dass eine intensivere LDL-C-Senkung mittels höherer
Statin-Dosierungen das kardiovaskuläre Risiko im Vergleich zu
Standarddosierungen zusätzlich signifikant senken kann (3). Eine 2012
erschienene weitere CTT-Metaanalyse umfasste nach Berücksichtigung einer
zusätzlichen Studie 27 Studien (22 zu Statin vs. Kontrolle, n = 134.537;
5 zu intensiver vs. nicht-intensiver LDL-C-Senkung, n = 39.612) und
beruhte diesmal auf den individuellen Rohdaten der Patienten. Sie kam zu dem
Schluss, dass auch Gruppen mit niedrigem Risiko von einer LDL-C-Senkung durch
Statine – sowohl in der Sekundär- als auch in
der Primärprävention – profitieren (4).
Die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der CTT-Collaboration wurden durch eine
2013 erschienene Cochrane-Review zur Primärprävention mit Statinen bestätigt
(5).
Die in diesen Metaanalysen berücksichtigten klinischen
Studien waren allerdings heterogen und unterschieden sich teilweise deutlich im
Gesamteffekt, wie z.B. die randomisierte SEARCH-Studie (6), in der sich keine
Unterschiede zwischen einer Behandlung von Patienten nach Myokardinfarkt mit niedriger
vs. hoher Statin-Dosis (20 mg vs. 80 mg Simvastatin/d) ergaben. Eine
kürzlich veröffentlichte bevölkerungsbasierte Studie aus Israel (7), auf die
ein Leser hingewiesen hat, zeigt ebenfalls keinen Unterschied in der
kardiovaskulären Ereignisrate bei niedrigeren vs. höheren LDL-C-Zielwerten
(< 70 mg/dl vs. 70-100 mg/dl). Auch zur Primärprävention gibt
es diskrepante Daten und Expertenmeinungen, etwa eine bereits 2010 erschienene
Metaanalyse (11 Primärpräventionsstudien mit insgesamt 65.229 Teilnehmern
ohne vorbestehende kardiovaskuläre Erkrankung), die – trotz eines mittleren bis hohen kardiovaskulären Risikos – keinen Effekt auf die Gesamtletalität gezeigt hatte (8),
und eine 2013 im BMJ erschienene kritische Interpretation der CTT-Metaanalysen
(9). Über die letztlich unklare Datenlage haben wir mehrfach – 2011 und 2012 anlässlich der CTT-Publikationen auch in
Hauptartikeln – kritisch berichtet (10, 11, 12).
Eine Indikation für Statine bei niedrigem Ausgangsrisiko in der
Primärprävention sahen und sehen wir auch heute aufgrund der geringen absoluten
Ereigniszahlen ebenso zurückhaltend wie eine intensive Cholesterinsenkung auf
niedrige Zielwerte, d.h. mit hohen Dosen von Statinen und/oder Nicht-Statinen.
An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert.
Wir stimmen der Ansicht mehrerer unserer Leser zu, dass
die Autoren der Lancet-Review differenzierter auf die zum Teil sich
widersprechende Evidenzlage hätten eingehen können. Auch wenn dadurch der
Nutzen von Statinen möglicherweise etwas zu optimistisch dargestellt wird, ist
aber unseres Erachtens der eigentlichen Intention der Publikation, nämlich dem
Plädoyer für eine rationale Nutzen-Risiko-Beurteilung von Statinen, durchaus
zuzustimmen. Die Autoren warnen im Text sowie in der Zusammenfassung sehr
eindringlich vor in Fach- und Laienpresse geäußerten, „irreführenden“ und
„übertriebenen Behauptungen zur Häufigkeit von Nebenwirkungen unter einer
Statin-Therapie“, die für eine „Unterversorgung von Personen mit erhöhtem
kardiovaskulärem Risiko verantwortlich sein können“. Das ungerechtfertigte
Absetzen von Statinen infolge von tendenziösen Medienberichten über deren
Risiken werde in Großbritannien „innerhalb einer Dekade zu 2.000 bis 6.000
kardiovaskulären Ereignissen führen, die sonst hätten vermieden werden können“
(13). Trotz der unbestritten in manchen Bereichen (z.B. hohe Dosierung,
Zielwert-Titrierung, Primärprävention) nicht eindeutigen Datenlage zur Statin-Therapie
teilen wir diese Bedenken in Anbetracht der für große Patientengruppen
zweifellos nachgewiesenen positiven Effekte der Statine auf kardiovaskuläre
Ereignisse.
Wichtig erscheint uns auch folgender Aspekt: Die
Autoren argumentieren zwar in einem Absatz mittels tierexperimenteller und
genetischer Daten sowie Hinweisen aus klinischen Studien für einen – sicherlich
erwägenswerten – „kausalen Zusammenhang zwischen LDL-C und vaskulären
Erkrankungen“, es ist aber in der umfangreichen (30seitigen) Übersichtsarbeit
ausschließlich von einer LDL-C-Senkung durch Statine die Rede, während
ein potenzieller Effekt auf kardiovaskuläre Endpunkte durch eine LDL-C-Senkung
mittels Nicht-Statin-Arzneimitteln nicht suggeriert wird. Im Gegenteil: Die
Autoren geben zu bedenken, dass hinter unangemessenen Berichten zur Prävalenz
der Statin-Intoleranz „kommerzielle Zwänge“ stehen könnten, „einen Markt für
neue, teure Wirkstoffe zu schaffen“ und nennen hier explizit die
PCSK9-Inhibitoren. Wir haben mehrfach über Studien zu Nikotinsäure (14), Torcetrapib
(15), Ezetimib (16, 17) sowie den PCSK9-Inhibitoren Alirocumab und Evolocumab
(18, 19) berichtet und vor dem fehlenden/geringen Nutzen (und teilweise
auch Risiken) einer reinen „Lipidkosmetik“ gewarnt. Die vor einem Jahr
präsentierte (aber noch nicht in einer Fachzeitschrift publizierte)
ACCELERATE-Studie (20) zum Cholesterylester-Transfer-Protein (CETP)-Inhibitor
Evacetrapib mit negativen Ergebnissen bei kardiovaskulären Endpunkten ist ein
weiterer Hinweis, dass die Cholesterinhypothese „the lower the better“ wohl
falsch und Cholesterin als Surrogatendpunkt möglicherweise ungeeignet ist (21).
Die seit 2013 gültigen US-amerikanischen Leitlinien
(22) empfehlen – übrigens ebenfalls unter weitestgehender
Berufung auf die CTT-Analysen – großzügig eine
(z.T. hochdosierte) Statin-Therapie in Fixdosis ohne nachfolgende LDL-C-Zielwert-Titrierung
(„Fire-and-forget“-Strategie), über die wir bereits kritisch berichtet haben
(23). Demgegenüber empfehlen die gemeinsam von der European Society of
Cardiology (ESC) und der European Atherosclerosis Society (EAS) im vergangenen
Jahr aktualisierten Leitlinien (24) in Abhängigkeit vom Ausgangsrisiko
(errechnet mittels Systemic-Coronary-Risk-Evaluation = SCORE; 25) und
Ausgangs-LDL-C-Wert sehr differenzierte (vielleicht für die Praxis zu
differenzierte?) Zielwerte für den absoluten LDL-C-Wert bzw. die relative LDL-C-Senkung.
Um diese Ziele zu erreichen, wird angeregt, Statine – falls erforderlich – bis zur maximalen
bzw. bis zur maximal tolerierten Dosis zu titrieren (Klasse-I-A-Empfehlung);
andere Wirkstoffe sind Reservemittel (Klasse-I-B- bzw. -I-C-Empfehlungen).
Wir sehen zur Zeit keinen Anlass, in Primär- und
Sekundärprävention von den pragmatischen nationalen Empfehlungen (z.B.
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft; 26) abzuweichen, in
denen Statine in Standarddosierung in der Primärprävention bei einem
kardiovaskulären 10-Jahres-Riskio > 20% (errechnet nach PROCAM oder
ARRIBA; 27, 28) und in der Sekundärprävention sowie bei Familiärer
Hypercholesterinämie empfohlen werden und Statine in hoher Dosierung nur in der
Sekundärprävention bei besonders hohem Risiko. In der Sekundärprävention können
zur Orientierung für die lipidsenkende Wirkung LDL-C-Werte (< 100 mg/dl;
nach Akutem Koronarsyndrom auch < 70-80 mg/dl) oder Ausmaß der
LDL-Senkung (um mindestens 30-40%) herangezogen werden. In Bezug auf Ezetimib
und PCSK9-Inhibitoren bleiben wir bei unserer bisherigen Empfehlung einer
restriktiven Verschreibung.
Fazit: Bei leitlinienkonform gegebener
Indikation für eine medikamentöse Lipidsenkung sind Statine Mittel erster Wahl.
Neben der rationalen Abwägung des für Statine eindeutig nachgewiesenen
positiven Effekts auf kardiovaskuläre Ereignisse einerseits und des relativ
geringen Risikos für schwere Nebenwirkungen (z.B. echte Statin-Myopathien)
andererseits sollte bei Beginn der Therapie die Aufklärung der Patienten ein zentraler
Bestandteil sein. Eine Ergänzung oder Umstellung auf neuere Cholesterinsenker
mit weniger klarer Evidenz und höheren Kosten sollte nur in gut begründeten
Einzelfällen erfolgen.
Literatur
- AMB2017, 51, 19.
- Collins,R., et al.: Lancet 2016, 388, 2532.

- Baigent,C., et al. (CTT = Cholesterol Treatment Trialists’collaboration): Lancet 2010, 376, 1670.
- Mihaylova, B., et al.(CTT = Cholesterol Treatment Trialists’ collaborators):Lancet 2012, 380, 581.
- Taylor,F., et al.: Cochrane Database Syst. Rev. 2013, 1, CD004816.
- Armitage,J., et al. (SEARCH = Study of the Effectiveness of AdditionalReductions in Cholesterol and Homocysteine): Lancet 2010, 376,1658
.Erratum: Lancet 2011, 377, 126. Vgl. AMB 2011, 45, 25. 
- Leibowitz, M.,et al. JAMA Intern. Med. 2016,176, 1105.

- Ray, K.K., et al.: Arch.Intern. Med. 2010, 170, 1024.

- Abramson, J.D., et al.:BMJ 2013, 347, f6123
. Erratum: BMJ 2014, 348,g3329.
- AMB 2011, 45, 25.

- AMB 2012, 46, 65.

- AMB 2010, 44, 84.

- Matthews, A., et al.: BMJ 2016, 353,i3283.
- AMB 2011, 45, 93.

- AMB 2008, 42, 99.

- AMB 2015, 49, 04.

- AMB 2008, 42, 31.

- AMB 2015, 49, 30.

- AMB 2015, 49, 74.

- Nicholls, S.J., et al. The ACCELERATE Trial: Impact of thecholesteryl ester transfer protein inhibitor evacetrapib on cardiovascularoutcome. Präsentiertauf der Jahrestagung des American College of Cardiology, 2.-4. April 2016, Chicago.
- DuBroff, R.: Evid. Based Med. 2017, 22,15.

- Stone, N.J., et al.: Circulation2013;01.cir.0000437738.63853.7a.

- AMB 2014, 48, 01.

- Catapano, A.L., et al.: Eur. HeartJ. 2016, 37, 2999.

- http://www.heartscore.org/

- http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/TE/A-Z/index.html

- http://www.assmann-stiftung.de/procam-studie/procam-tests/

- http://www.arriba-hausarzt.de/

|