Im Jahr 2015 wurde mit
dem Antikörper-Fragment Idarucizumab (Ida; Praxbind®)
das erste Antidot gegen ein neues orales Antikoagulans (NOAK)
zugelassen. Ida wirkt spezifisch gegen den Thrombininhibitor
Dabigatran (Pradaxa®)
und hebt dessen gerinnungshemmende Wirkung innerhalb von Minuten auf.
Die Werbung verspricht einen On/Off-Mechanismus, vergleichbar einem
Schalter. Antidote gegen die drei anderen zugelassenen NOAK
(Faktor-Xa-Inhibitoren) sind entgegen den Ankündigungen der
pharmazeutischen Unternehmer auch Ende 2017 noch nicht erhältlich.
Über die ersten
Ergebnisse nach Behandlung von 90 Patienten mit Ida haben wir
2016 berichtet (1). Es handelte sich um eine offene prospektive
Kohortenstudie mit dem Akronym RE-VERSE AD. Im August 2017
wurden nun die Daten der vollständigen Kohorte mit 503 Patienten
publiziert (2). RE-VERSE AD wurde an 173 Zentren (7 in
Deutschland und Österreich) von Boehringer Ingelheim, dem
Hersteller von Dabigatran und Ida, durchgeführt. Die Patienten
(mittleres Alter 78 Jahre, 43,3% mit Kreatinin-Clearance
< 50 ml/min.) hatten unter laufender Behandlung mit
Dabigatran entweder eine nicht kontrollierbare lebensbedrohende
Blutung (Gruppe A; n = 301: 137 gastrointestinale
(GI)-Blutung, 98 intrazerebrale (IC)-Blutung, 78 Blutungen
traumabedingt) oder mussten akut operiert werden (Gruppe B;
n = 202: 49 abdominale, 41 orthopädische, 37
kardiochirurgische und 75 andere Eingriffe). Sie erhielten –
ohne
Kontrollgruppe –
das Antidot (5 g Ida) als Doppelbolus (zweimal 2,5 g
innerhalb von 15 Minuten). Primärer Endpunkt war die
Normalisierung von Gerinnungsparametern (s.u.) innerhalb von
4 Stunden. Klinische Ereignisse und die Verträglichkeit
waren sekundäre Endpunkte.
Ergebnisse:
Bereits nach dem ersten Bolus Ida normalisierten sich bei den meisten
Patienten die Gerinnungswerte, und 4 Stunden nach dem zweiten
Bolus waren diese bei allen Patienten normal (gemessen wurden die
„dilute Thrombin Time“ = dTT und die Ecarin Clotting Time
= ECT). Die Konzentration des ungebundenen Dabigatran im Plasma wurde
ebenfalls gemessen (sekundärer Endpunkt) und korrelierte gut mit
den Ergebnissen der Gerinnungstests. Sie lag unmittelbar nach der
Antikörperinfusion bei allen, bis auf einen Patienten,
< 20 ng/ml (Ausgangswert 110 ng/ml). Bei
114 Patienten (23%) stieg die Konzentration von ungebundenem
Dabigatran nach 12 Sunden wieder an. Zehn dieser Patienten (15%)
bluteten erneut oder anhaltend, und drei erhielten „off label“
einen dritten Bolus Ida.
Für die Berechnung
der Blutungszeiten in Gruppe A (Evaluation nach 10 und
30 Minuten sowie 1, 2, 4, 12 und 24 Stunden nach der
Ida-Infusion durch die behandelnden Ärzte) wurden nur die Daten
von 203 der 301 Patienten aus Gruppe A herangezogen. Die
98 Patienten mit IC-Blutung wurden von dieser Analyse
ausgeschlossen, weil der Blutungsstopp bei IC-Blutungen nicht
eindeutig erkennbar ist.
Bei den verbleibenden
203 Patienten war die Blutung bei 134 (67,7%) innerhalb von
24 Stunden nach Angaben der Behandelnden sicher gestoppt. Die
mediane Zeit bis zum Stopp der Blutung wird bei diesen Patienten mit
2,5 Stunden angegeben (95%-Konfidenzintervall: 2,2-3,9 Stunden).
Die Situation bei den übrigen 69 Patienten ist unklar. Laut
Angaben der Autoren hatte bei diesen Patienten die Blutung bereits
spontan vor Gabe des Antikörpers aufgehört (n = 2)
oder der Zeitpunkt des Blutungsstopps war nicht festzulegen (n = 67),
weil die Blutung nicht sichtbar war. Ob darunter auch Patienten
waren, die trotz Antidot > 24 Stunden bluteten, wird
nicht erwähnt. Somit liegen der Angabe „2,5 Stunden
bis zum Blutungsstopp“ nur die klinischen Daten von 45% der
Gesamtkohorte aus Gruppe A zu Grunde, exklusive der Patienten
mit IC-Blutung und bei denen der Blutungsstopp nicht bestimmbar war.
In Gruppe A erhielten 61,5% der Patienten Blutkonserven und 6,6%
zusätzlich Plasmaderivate.
In Gruppe B betrug
die mediane Zeit bis zum Beginn der geplanten Operation 1,6 Stunden.
Die Blutungsneigung wurde von den Operateuren bei 93,4% als normal,
bei 5,1% als moderat abnorm und bei 1,5% als abnorm beurteilt.
Blutkonserven erhielten 26,2% der Patienten und 4% zusätzlich
Plasmaderivate.
Thrombotische Ereignisse
traten während der 90-tägigen Nachbeobachtung bei 6,3% der
Patienten in Gruppe A und bei 7,4% in Gruppe B auf. Dabei
handelte es sich in erster Linie um tiefe Beinvenenthrombosen bzw.
Lungenembolien, akute Koronarsyndrome und Schlaganfälle. Die
90-Tage-Letalität betrug in beiden Gruppen ca. 19%.
Antikörper gegen Ida
wurden bei 28 Patienten gefunden (5,6%), von denen 19
präexistierende kreuzreagierende Antikörper hatten. Nur
9 Patienten (1,2%) wurden neu sensibilisiert. Bei drei Patienten
wurden mögliche allergische Reaktionen beschrieben (je einmal
Hypotension, Hautausschlag und Bewusstseinsverlust). Andere
schwerwiegende unerwünschte Ereignisse (innerhalb von 5 Tagen
nach Gabe des Antikörpers) waren Herzinsuffizienz bzw.
Lungenödem (3,6%), Delir (2,3%), septische Erkrankungen (2,8%)
und Herzstillstand (1,6%). Ein kausaler Zusammenhang mit Ida gilt als
unsicher.
In Leserbriefen zu der
Publikation wird auf die Diskrepanz zwischen der Normalisierung der
Gerinnungswerte (innerhalb von wenigen Minuten) und der Zeit bis zur
effektiven Blutstillung (mehrere Stunden) hingewiesen. Der von der
Werbung suggerierte „Ausschalter“ bezieht sich also nur
auf die Ergebnisse der Gerinnungstests, nicht aber auf die klinische
Wirkung. Zudem wird das Publikationsverhalten der Autoren stark
bemängelt. In zwei vorausgegangenen Interimsanalysen wurden
jeweils stark abweichende Blutstillungszeiten bei verschiedenen
Subgruppen genannt: 2014 nannte man auf der Basis von 35 der 51
„auswertbaren“ Patienten eine mediane Zeit von
11,4 Stunden bis zum Blutungsstopp (3) und 2015 wurde auf einem
Kongress auf Basis von 158 der 298 „auswertbaren“
Patienten eine Blutstillungszeit von 3,5 Stunden bei
GI-Blutungen und 4,5 Stunden bei Nicht-IC- und
Nicht-GI-Blutungen genannt (4). Nun, 2017, lautet der angegebene Wert
auf Basis von 134/301 „auswertbaren“ Patienten
2,5 Stunden bei allen Nicht-IC-Blutungen (2). Der Anteil der
diesen Zahlen zu Grunde liegenden Patienten variiert zwischen 45% und
69% aus der jeweilig analysierten Subgruppe und erscheint
willkürlich. Den Vorwurf einer selektiven Publikation von
Ergebnissen können die Autoren in ihrer Replik nicht entkräften
(5). Man stimme aber darin überein, dass die jetzt vorgelegte
mittlere Blutstillungszeit von 2,5 Stunden nicht für alle
Patienten gelte und dass mehr Ergebnisse aus Postmarketing-Studien
nötig seien.
Zur Einordnung dieser
Daten sei an die Antagonisierung von Vitamin-K-Antagonisten (VKA)
erinnert. Nach einer Metaanalyse von 19 Studien (18
Kohortenstudien und 1 RCT) mit insgesamt 2.828 Patienten,
die unter laufender VKA-Therapie bluteten (Ausgangs-INR 2,2 bis
> 20), beträgt die Zeit, bis die INR auf < 1,5
absinkt, nach Gabe von Prothrombin-Komplex (PCC) 1-5,5 Stunden
und nach Fresh Frozen Plasma (FFP) 4,2 Stunden (6). Die
Letalität betrug bei diesen gepoolten Daten 17% (30-90 Tage
Nachbeobachtung), lag also im Bereich der Kohorte von RE-VERSE AD.
Patienten ohne Antagonisierung mit PCC oder FFP hatten eine
durchschnittliche Letalität von 51%. Eine kürzlich
veröffentlichte retrospektive Auswertung von 56 Patienten
aus 5 US-amerikanischen Zentren, die unter einem
Faktor-Xa-Antagonisten (überwiegend Rivaroxaban und Apixaban)
lebensbedrohlich bluteten (29 GI-, 19 IC-, und 8 andere
Blutungen), ergab eine 30-Tage-Letalität von 21% (7). Aufgrund
des Fehlens eines spezifischen Antidots erhielten 43% dieser
Patienten verschiedene Gerinnungsfaktoren und Plasmaprodukte
(überwiegend Faktor-VIII-Inhibitor Bypassing Activity = FEIBA,
FFP und PCC).
Fazit:
Die Letalität bei Patienten, die unter oralen Antikoagulanzien
kritisch bluten, ist hoch (bis zu 50% ohne Gegenmaßnahmen). Bei
Blutungen unter Dabigatran normalisiert das Antidot Idarucizumab zwar
rasch die Gerinnungswerte. Die Blutung steht aber oft erst nach
Stunden. Einen On/Off-Mechanismus bei Blutungen, wie von der Werbung
suggeriert, bietet Idarucizumab also nicht. Entsprechend ist das
klinische Ergebnis bei Patienten, die unter diesem NOAK bluten,
wahrscheinlich auch nicht wesentlich besser als bei Patienten, die
unter Vitamin-K-Antagonisten bluten und mit Plasmaprodukten
antagonisiert werden. Sehr unbefriedigend ist die Tatsache, dass es
für die drei anderen zugelassenen NOAK (Apixaban, Edoxaban,
Rivaroxaban) noch immer kein Antidot gibt.
Literatur
-
AMB
2016, 50,
12.
-
Pollack,
C.V., et al. (RE-VERSE AD = A
Study of the RE-VERSal
Effects
of idarucizumab on Active
Dabigatran):
N. Engl. J. Med. 2017, 377,
431.
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Pollack,
C.V.,
et al. (RE-VERSE AD = A
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of idarucizumab on Active
Dabigatran):
N.
Engl. J. Med.
2015, 373,
511.
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Pollack,
C.V., et al.: Updated results of the RE-VERSE AD study.
Presented at the 2016 American Heart Association Scientific
Sessions, New Orleans, November 12-16, 2016.
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Pollack,
C.V., et al. (RE-VERSE AD = A
Study of the RE-VERSal
Effects
of idarucizumab on Active
Dabigatran):
N. Engl. J. Med. 2017, 377,
1691.
-
Brekelmans,
M.P.A., et al.: J. Thromb. Thrombolysis 2017, 44,
118.
-
Milling,
T.J., et al.: Am. J. Emerg. Med. 2017 pii: S0735-6757(17)30691-5.
[Epub ahead of print].
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