Zusammenfassung:
Bei etwa einem Drittel der Patienten nach
Akutem Koronarsyndrom und Stent-Implantation wird die in den
Leitlinien empfohlene duale Hemmung der Thrombozytenfunktion mit ASS
plus Ticagrelor bzw. plus Prasugrel innerhalb eines Jahres auf ASS
plus Clopidogrel „deeskaliert“. Die Gründe sind
Blutungen und andere Nebenwirkungen, elektive operative Eingriffe
sowie möglicherweise auch die deutlich höheren
Arzneimittelkosten. Zwei aktuelle randomisierte kontrollierte Studien
zeigen, dass eine solche Deeskalation 4 Wochen nach Akutem
Koronarsyndrom unter bestimmten Umständen der
leitlinienkonformen Standardtherapie nicht unterlegen ist. Bei
Patienten mit hohem Thromboserisiko ist jedoch von einer Deeskalation
abzuraten.
Die aktuell gültigen
europäischen Leitlinien empfehlen nach Koronarintervention wegen
eines Akuten Koronarsyndroms (ACS) eine Thrombozytenfunktionshemmung
(TFH) mit ASS plus einem neueren P2Y12-Rezeptorblocker (Prasugrel =
Pra, Ticagrelor = Tic; 1) über 12 Monate. Tic und Pra sind
pharmakologisch stärker wirksam als Clopidogrel (Clo) und haben
in der TRITON-TIMI-38- und PLATO-Studie die Häufigkeit von
Reinfarkten und ungeplanten Reinterventionen gesenkt (2-4). Zugleich
führte diese intensivere TFH aber auch zu vermehrten
Blutungskomplikationen im Vergleich zu ASS plus Clo. Da der Nutzen
von Tic und Pra besonders in den ersten Wochen nach ACS besteht und
die Blutungskomplikationen über die Zeit akkumulieren, stellt
sich in der Praxis häufig die Frage, ob die intensivere TFH nach
der akuten Phase auf die weniger blutungsträchtige Variante ASS
plus Clo „deeskaliert“ werden kann. Nach Registerdaten
erfolgt eine solche Deeskalation in der Praxis bei 28% der Patienten,
meist wegen Blutungen (5). Weitere Gründe für eine
Deeskalation könnten ökonomische sein: Ein Jahr Therapie
mit Pra oder Tic kostet rund 700-1000 €, dagegen
generisches Clo weniger als 100 €.
Ob eine frühe
Deeskalation der dualen TFH nach ACS eine akzeptable
Nutzen-Risiko-Relation hat, war bislang unklar. Da die Hersteller von
TFH kein Interesse an der Klärung dieser Frage haben, musste
dies in sog. Investigator-initiierten Studien geklärt werden
(6, 8).
Die überwiegend mit
Forschungsgeldern der Universität München finanzierte
TROPICAL-ACS-Studie wurde an insgesamt 2.610 Patienten mit ACS (56%
STEMI, 44% NSTEMI) in 33 europäischen Zentren durchgeführt
(6). Patienten > 80 Jahre waren ausgeschlossen; das
mittlere Alter betrug 59 Jahre, 21% waren Frauen, 99% erhielten
mindestens einen Stent, und es war eine 12-monatige duale TFH
vorgesehen. Alle Patienten erhielten zunächst ASS plus Pra. Die
Hälfte (Interventionsgruppe; n = 1.304) wurde dann,
eine Woche nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, auf ASS plus Clo
umgestellt. Eine Woche später erfolgte ein
Plättchenfunktionstest (PFT; Multiplate-Test), um Patienten mit
hoher Plättchenreaktivität zu identifizieren (Definition:
> 45 U nach ADP-Stimulation). Diese (n = 511;
39%) wurden aus Sicherheitsgründen wieder auf ASS plus Pra
zurückgesetzt. Die übrigen Patienten wurden ohne weitere
PFT mit ASS plus Clo weiterbehandelt. Diese Strategie kann man als
kontrollierte Deeskalation bezeichnen. Die Kontrollgruppe (n = 1306)
wurde über ein Jahr mit ASS plus Pra behandelt. Interessehalber
erfolgte auch bei diesen ein PFT. Hierbei zeigte sich bei 14% eine
hohe Plättchenreaktivität. Die Therapie wurde bei Patienten
mit diesem Ergebnis jedoch nicht verändert.
Die Einnahme der
Arzneimittel erfolgte offen, die Nachuntersucher waren hinsichtlich
der Gruppenzuteilung jedoch verblindet. Die Beschränkung auf Pra
ergab sich wohl aus der Tatsache, dass dessen pharmazeutischer
Unternehmer logistische Unterstützung geleistet hat. Der
Hersteller des Multiplate-Tests war ebenfalls ein Ko-Sponsor der
Studie. Die Nachbeobachtung betrug 12 Monate; jeweils 4% der
Patienten konnten nicht weiter verfolgt werden. Die Adhärenz zur
zugelosten Therapie wurde mit Hilfe eines Fragebogens ermittelt. Sie
betrug demnach im Interventionsarm 94,4% und im Kontrollarm 94,2%.
Der
primäre Endpunkt (zusammengesetzt aus kardiovaskulärem Tod,
Myokardinfarkt, Schlaganfall und bedeutsamen Blutungen) trat bei
95 Patienten in der Interventionsgruppe und bei 118 in der
Kontrollgruppe ein (7% vs. 9%). Die kontrollierte Deeskalation erwies
sich gegenüber der Standardbehandlung als nicht unterlegen
(Hazard ratio = HR: 0,81; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,62-1,06;
p = 0,0004). Ischämische Ereignisse (kardiovaskulärer
Tod, Schlaganfall, Reinfarkt) wurden in beiden Gruppen gleich häufig
beobachtet (3%), ebenso Stent-Thrombosen (< 1%).
Blutungskomplikationen traten ebenfalls etwa gleich häufig auf:
Alle Blutungen 9% vs. 11% (p = 0,14) sowie Blutungen nach
der Bleeding Academic Research Consortium(BARC)-Definition Typ 2
oder höher – d.h. Blutungen, die zu einer diagnostischen
Abklärung, medizinischen Behandlungen, einem
Krankenhausaufenthalt oder zum Tod führen; vgl. 7) –
bei 5% vs. 6% (p = 0,23).
Das zweite RCT zum Thema
Deeskalation (Akronym TOPIC) wurde monozentrisch in Marseille
durchgeführt und schloss insgesamt 645 Patienten ein (40% STEMI,
60% instabile Angina pectoris oder NSTEMI; 8). Das mittlere Alter der
Patienten betrug 60 Jahre, 18% waren Frauen, 97% erhielten einen
Stent. In der TOPIC-Studie war der P2Y12-Rezeptorblocker nicht
vorgegeben, und die Deeskalation erfolgte unkontrolliert, also ohne
PFT. Die Patienten erhielten nach der Koronarintervention ASS plus
Tic (43%) oder ASS plus Pra (57%), entsprechend dem lokalen Standard.
Patienten in der Interventionsgruppe (n = 323) wurden
4 Wochen nach dem Eingriff – ohne dass bis dahin
unerwünschte Ereignisse aufgetreten waren – auf ASS plus
Clo umgestellt. Patienten in der Kontrollgruppe (n = 323)
erhielten die initiale TFH über 11 Monate weiter. Auch in
dieser Studie erfolgte die Behandlung offen, und die Nachuntersucher
waren hinsichtlich der Gruppenzuordnung verblindet.
Die Nachbeobachtung
betrug 12 Monate. In jeder Gruppe gingen 1,8% der Patienten für
die Auswertung verloren. Die Adhärenz zur zugelosten TFH wurde
bei Kontrollvisiten abgefragt. Sie betrug im Interventionsarm 86% und
im Kontrollarm 74,9% (p < 0,01). Die häufigsten
Gründe für eine Änderung der zugelosten TFH waren
ischämische oder hämorrhagische Ereignisse, chirurgische
Eingriffe oder spezielle Nebenwirkungen (z.B. Atemnot unter Tic).
Der primäre Endpunkt
(zusammengesetzt aus kardiovaskulärem Tod, ungeplanter
Krankenhausbehandlung mit Revaskularisation, Schlaganfall und
Blutungstyp nach BARC ≥ 2) wurde von 43 Patienten
in der Deeskalations- und 85 in der Kontrollgruppe erreicht (13,4%
vs. 26,3%; HR: 0,48; CI: 0,34-0,68; p < 0,01).
Der Vorteil der Deeskalation ergab sich durch deutlich weniger
Blutungen (BARC ≥ 2: 4% vs. 14,9%; HR: 0,30; CI:
0,18-0,50; p < 0,01). Ischämische Ereignisse wurden
in beiden Gruppen etwa gleich häufig beobachtet (9,3% vs. 11,5%;
p = 0,36), wobei die Patientenzahl für die
Aussagekraft bei diesem Endpunkt nicht ausreicht. Ungeplante
Revaskularisationen waren ähnlich häufig erforderlich (8,7%
vs. 9,3%). Angaben zur Zahl von Reinfarkten oder Stent-Thrombosen
werden nicht gemacht.
Die
Ergebnisse der beiden RCT (6, 8) zeigen, dass eine Deeskalation
von ASS plus Tic bzw. ASS plus Pra auf ASS plus Clo 2 bzw. 4 Wochen
nach einer akuten Koronarintervention möglich und der
gegenwärtig empfohlenen Praxis nicht unterlegen ist. In beiden
Studien kam es durch die Deeskalation nicht häufiger zu
ischämischen Ereignissen, und in der kleineren TOPIC-Studie
ergab sich sogar ein Vorteil durch die Deeskalation, denn es
ereigneten sich weniger Blutungen.
Offen
bleibt, ob diese Deeskalation kontrolliert, also an Hand von PFT
erfolgen soll, oder ob sie auch ohne Messung der Plättchenreaktivität
durchgeführt werden kann. Bisherige Untersuchungen zur
Therapiesteuerung der TFH konnten keinen Nutzen von PFT nachweisen
(vgl. 9). Auch in einem Kommentar zur TROPICAL-ACS-Studie (10)
wird an die vielen Einschränkungen der PFT und die mangelnde
Evidenz für dieses Vorgehen erinnert. Besonders wird auch auf
die Gefahren eines Hin und Her bei der TFH verwiesen, denn hierdurch
könnten Unsicherheiten in der Therapie und Probleme hinsichtlich
der Sicherheit entstehen.
Derzeit
kann nicht zu einem generellen Wechsel in der Strategie bei der TFH
geraten werden, denn die beiden Studien kamen bei einigen Ergebnissen
zu deutlichen Unterschieden, die schwer zu erklären sind:
Blutungen des Typs BARC ≥ 2 waren in der Kontrollgruppe
von TOPIC mehr als doppelt so häufig wie in TROPICAL-ACS.
Außerdem waren ischämische Ereignisse in TROPICAL-ACS mit
3% ungewöhnlich niedrig, d.h. nur ein Drittel der Ereignisse in
TOPIC (11,5%). Insbesondere bei Patienten mit hohem Thromboserisiko
(z.B. Patienten mit Diabetes, Niereninsuffizienz, mit Z. n.
Stent-Thrombose etc.) sollte die THF nicht ohne triftigen Grund
deeskaliert werden.
Literatur
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- Wallentin, L., et al. (PLATO = PLATelet inhibition and patient Outcomes): N. Engl. J. Med. 2009, 361, 1045.
- AMB 2008, 42, 05
. AMB 2010,
44, 19.
- Zettler, M.E., et al. (TRANSLATE-ACS = TReatment with Adenosine diphosphate (ADP) receptor iNhibitorS: Longitudinal Assessment of Treatment patterns and Events after Acute Coronary Syndrome): Am. Heart J. 2017, 183, 62.
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- Mehran, R., et al.: Circulation 2011, 123, 2736.
- Cuisset, T., et al. (TOPIC = Timing Of Platelet Inhibition after acute Coronary syndrome): Eur. Heart J. 2017, 38, 3070.
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. AMB 2011, 45, 84.
- Angiolillo, D.J.: Lancet 2017, 390, 1718.
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