Artikel herunterladen

Risiken von Valproinsäure bei Frauen im gebärfähigen Alter

Valproinsäure (VPA) bzw. deren Salze werden zur Behandlung verschiedener Epilepsieformen und zur Phasenprophylaxe bei bipolarer Störung sowie bei akuten manischen Zuständen eingesetzt. Off-label wird VPA auch bei schizoaffektiven Störungen und Suchterkrankungen sowie zur Migräneprophylaxe verordnet (vgl. 1). Die teratogene Wirkung von VPA ist seit über 35 Jahren bekannt. Wie kein anderes Arzneimittel erhöht VPA (bis zum 12fachen) das Risiko für Neuralrohr-Defekte – eine angeborene Organfehlbildung, die lebenslange neurologische Behinderungen nach sich ziehen kann (vgl. 2). Außerdem ist seit etwa 15 Jahren bekannt, dass VPA in der Schwangerschaft die kognitive Entwicklung des Kindes beeinträchtigen kann. Das Risiko für pränatale Entwicklungsstörungen ist dosisabhängig, jedoch gibt es keine Schwellendosis, bei der VPA sicher ist (3).

Die für Neuralrohr-Defekte sensible embryonale Entwicklungsphase in Woche fünf bis sechs nach der letzten Regel fällt mit der frühestmöglichen Wahrnehmung einer Schwangerschaft zusammen. Eine Umstellung der Medikation zu diesem Zeitpunkt könnte das embryotoxische Risiko also nicht vermeiden, abgesehen davon, dass ein abruptes Absetzen bzw. Umsetzen von VPA die behandelte Krankheit verschlechtern kann. Da > 40% aller Schwangerschaften in Mitteleuropa ungeplant entstehen und es selbst unter einem Verhütungsprogramm bei Anwendung embryotoxischer Arzneimittel, wie z.B. dem Aknemittel Isotretinoin, zu Schwangerschaften kommt (4), muss eine Vermeidung embryotoxischer Arzneimittel bereits vor einer Schwangerschaft ansetzen, also alle Frauen im gebärfähigen Alter im Blick haben.

In Deutschland wurden Ärzte und Apotheker deshalb im Dezember 2014 durch einen Rote-Hand-Brief informiert, VPA bei Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter generell nicht mehr als Erstlinienpräparat einzusetzen. Vorangegangen war ein Konsens einer im Oktober 2014 von der EMA eingeladenen Expertenkommission. Im April 2017 wurde mit Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zudem eine Patienten-Erinnerungskarte als Maßnahme zur Risikominimierung verfügt, die seit Juli 2017 bei jeder VPA-Verordnung an Patientinnen im gebärfähigen Alter mit entsprechenden Erläuterungen ausgehändigt werden soll. Im Weiteren müssen alle neu in Verkehr gebrachten VPA-Packungen eine solche Karte beinhalten (5).

In Frankreich führten Auswertungen von Versichertendaten auf Veranlassung der französischen Arzneimittelaufsicht (ANSM) zu kontroversen Diskussionen, ob die bisherigen Maßnahmen zu Risikoaufklärung und Einschränkungen der VPA-Verordnungen bei Mädchen und Frauen im gebärfähigen Alter ausreichend sind (6). Basierend auf den französischen Versichertendaten fand eine Auswertung der ANSM zwischen 2007 und 2015 eine Abnahme der VPA-exponierten Mädchen bzw. Frauen im Alter von 15-49 Jahren um nur 32% (7, 8). Die Indikation für VPA war im Jahr 2015 bei 59% der 15 bis 49-jährigen Patientinnen eine bipolare Störung und bei 41% eine Epilepsie. Zahlen, ob in Deutschland ähnlich häufig VPA an Frauen im gebärfähigen Alter verordnet wird, wurden bisher nicht veröffentlicht.

Verglichen mit den ebenfalls teratogenen Retinoiden, die systemisch bei Akne angewendet werden, ist die Situation bei VPA komplexer. Hier einige Aspekte und Empfehlungen:

  • Im gebärfähigen Alter sollen Frauen mit Epilepsie primär auf andere, für den Embryo besser verträgliche Mittel, wie z.B. Lamotrigin und Levetiracetam, eingestellt werden.

  • Eine anders nicht anders zu behandelnde Epilepsie (z.B. primär generalisierte tonisch-klonische Anfälle) kann die Fortsetzung von VPA während einer Schwangerschaft erfordern. Bei einer solchen Patientin würde man VPA so gering wie möglich dosieren.

  • Eine behandlungsbedürftige Epilepsie nicht zu behandeln, ist weder für die Mutter noch für das ungeborene Kind ein akzeptables Vorgehen, denn beide werden gefährdet. Dies ist bei Anwendung von Retinoiden in der Dermatologie anders.

  • Ein Programm zur Schwangerschaftsverhütung wie bei den Retinoiden hätte zur Folge, Frauen mit Epilepsie, die auf VPA angewiesen sind, ggf. lebenslang eine Schwangerschaft zu verwehren.

  • Der Einsatz von VPA bei anderen Diagnosen als therapierefraktärer Epilepsie und manchen Zuständen akuter Manie ist bei Frauen im gebärfähigen Alter heute kaum noch zu rechtfertigen. Dies betrifft die VPA-Langzeitmedikation als Phasenprophylaxe bei bipolarer Störung sowie off-label als Migräneprophylaxe und bei anderen psychiatrischen Diagnosen. Für alle diese Indikationen gibt es gut verträgliche und wirksame Alternativen.

  • Hinsichtlich der Gesamtrate grobstruktureller Fehlbildungen und der Beeinträchtigung kognitiver Funktionen sind VPA und systemische Retinoide ähnlich risikoreich einzuschätzen: Die Fehlbildungsraten können auf 10-20% erhöht sein, und beide Wirkstoffe beinhalten das Risiko, die ZNS-Funktionen des Kindes zu beeinträchtigen.

  • Die für VPA typischen Neuralrohr-Defekte (Spina bifida) mit zum Teil lebenslangen neurologischen Folgen sind nicht weniger problematisch einzuschätzen als die Fehlbildungen durch Retinoide.

Fazit: Jede Verordnung von Valproat bei Frauen im gebärfähigen Alter bedarf – auch wenn Kinderwunsch verneint wird – einer äußerst kritischen Prüfung. Bei Epilepsie sollten primär für den Embryo gut verträgliche Mittel wie z.B. Lamotrigin oder Levetiracetam bevorzugt werden und zur Phasenprophylaxe bei bipolarer Störung z.B. atypische Neuroleptika. Für andere (off-label) Indikationen gibt es bei Frauen im gebärfähigen Alter weder eine Rechtfertigung noch eine rationale Grundlage.

Literatur

  1. AMB 2017, 51, 81. Link zur Quelle
  2. AMB 2005, 39, 17. Link zur Quelle
  3. Tomson, T., et al. (EURAP = European Registry of Antiepileptic drugs and Pregnancy): Neurology 2015, 85, 866. Link zur Quelle
  4. Schaefer, C., et al.: Arch. Gynecol. Obstet. 2010, 281, 221. Link zur Quelle
  5. http://www.bfarm.de/… Link zur Quelle (zuletzt aufgerufen am 1.2.2018).
  6. Prescrire International 2017, 26, 294.
  7. Deutsche Apotheker Zeitung Depakine: Link zur Quelle (zuletzt aufgerufen am 1.2.2018).
  8. Agence nationale de sécurité du médicament et des produits de santé & Securité sociale l’Assurance Maladie Caisse Nationale: Link zur Quelle (zuletzt aufgerufen am 1.2.18).