Am 31. Januar 2018 wurde
von der Europäischen Kommission (EC) ein – im Originaltext
55 Seiten umfassender – Vorschlag für eine neue
Regelung des Europäischen Parlaments und Europarats zur
Bewertung von Gesundheitstechnologien (Health Technology Assessment =
HTA) veröffentlicht, der sich in erster Linie auf Arzneimittel
und Medizinprodukte bezieht (1, 2). Diese Regelung soll die
Richtlinie 2011/24/EU ändern, die u.a.
die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Systemen der
Gesundheitsversorgung sowie der Ausübung der Patientenrechte in
der grenzüberschreitenden Gesundheitsversorgung festlegt (3).
In einer kurzen
Mitteilung und einem Informationsblatt stellt die EC die Probleme
dar, die mit diesem Vorschlag angegangen werden sollen, und erläutert
die wichtigsten Zielsetzungen des Kommissionsvorschlags (4). Aus
Sicht der EC wird „derzeit der Marktzugang für innovative
Technologien in Europa durch die unterschiedlichen nationalen
HTA-Verfahren und -Methodiken behindert und verzerrt. Hierdurch
werden die unternehmerische Planungssicherheit und die
Innovationstätigkeit beeinträchtigt, der Industrie
entstehen höhere Kosten, und es kommt zu Verzögerungen bei
der Verfügbarkeit von Arzneimitteln bzw. anderen
Gesundheitstechnologien. Weitere mögliche Folgen sind Mehrarbeit
für die nationalen HTA-Institutionen, eine ineffiziente
Ressourcennutzung und eine eingeschränkte Transparenz für
die Patienten“. Die Zusammenarbeit vom Europäischen
Netzwerk der HTA-Institutionen (EUnetHTA) im Rahmen von 3 gemeinsamen
Projekten („Joint Actions“ = JA) hat 2010 begonnen und
die JA 3 läuft noch bis 2020 unter Beteiligung des
Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), des Instituts für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) sowie des Ludwig
Boltzmann Instituts für Health Technology Assessment in Wien
(5, 6). Die bisherigen Erfahrungen mit EUnetHTA haben jedoch
nach Einschätzung der EC gezeigt, „dass sich diese
Probleme (s.o.) durch den bereits bestehenden Mechanismus der
freiwilligen Zusammenarbeit allein nicht hinreichend lösen
lassen“ (4). Die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten soll
deshalb künftig nach Inkrafttreten der geänderten
Richtlinie 2011/24/EU in vier Kernbereichen auf EU-Ebene erfolgen:
1. Gemeinsame klinische Bewertungen; 2. Gemeinsame
wissenschaftliche Konsultationen; 3. Identifizierung neu
entstehender Gesundheitstechnologien und 4. Freiwillige
Zusammenarbeit in Bereichen, für die keine Zusammenarbeit
vorgeschrieben wird (d.h. bei anderen Gesundheitstechnologien als
Arzneimittel und Medizinprodukte). Gemeinsame klinische Bewertungen
sollen sich aus Sicht der EC auf die innovativsten Technologien
beschränken, die in Bezug auf die öffentliche Gesundheit am
erfolgversprechendsten sind. Dies bedeutet konkret für
Arzneimittel „solche, für die das zentralisierte
Zulassungsverfahren der EU gilt, einschließlich neuer
Wirkstoffe sowie bestehender Produkte, für die die Zulassung um
eine neue therapeutische Indikation erweitert werden soll“. Die
gemeinsamen klinischen Bewertungen sollen keinen Einfluss auf die
Bewertung von Arzneimitteln für die Zulassung haben und erst
nach Zulassung der Arzneimittel abgeschlossen werden. Eine eigene
klinische Bewertung von beispielsweise neu zugelassenen Arzneimitteln
durch den G-BA im Rahmen der frühen Nutzenbewertung (7) in
Deutschland soll es dann nicht mehr geben. Allerdings dürfen die
nationalen HTA-Institutionen weiterhin nicht klinische (z.B.
wirtschaftliche, soziale und ethische) Aspekte der
Gesundheitstechnologien bewerten und die für das jeweilige
Gesundheitssystem relevanten Entscheidungen (z.B. Preisgestaltung und
Erstattung) treffen (4). Nutznießer der Zusammenarbeit sind
nach Einschätzung der EC die Patienten,
da „erfolgversprechende innovative Technologien schneller
genutzt werden können“, die Mitgliedsstaaten,
u.a. infolge einer „gesteigerten Tragfähigkeit ihrer
Gesundheitssysteme“ und Vermeidung unnötiger Doppelarbeit
bei klinischen Bewertungen und die Industrie
infolge der „klareren Vorschriften, einer höheren
Planungssicherheit und Kosteneinsparungen“.
Die neuen Vorschriften
sollen drei Jahre nach Annahme dieses Vorschlags durch das
Europäische Parlament und den Europarat (geplant: 2019) in Kraft
treten, und den Mitgliedstaaten soll ein Übergangszeitraum von
weiteren drei Jahren für die Umstellung auf das neue
(gemeinsame) System eingeräumt werden. In diesem Zeitraum soll
dann die Zahl der gemeinsamen klinischen Bewertungen schrittweise
erhöht werden (4).
Dieser Vorschlag der EC
wurde – nicht überraschend – vom Verband forschender
Arzneimittelhersteller (VfA; 8) und auch vom Bundesverband der
Arzneimittelhersteller (BAH; 9) begrüßt, vor allem,
„da die geplante Verzahnung von Zulassungsbehörden und
Nutzenbewertungsinstanzen im Arzneimittelsektor ein echter Schritt
nach vorne sein könne, den Zugang zu innovativen Arzneimitteln
verbessere und Komplexität sowie Kosten für
Arzneimittelhersteller verringere“ (10).
Demgegenüber
äußerten sich die führenden Vertreter von G-BA, IQWiG
und Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherung kritisch (10)
– aus unserer Sicht zu Recht –, da eine zentralisierte
HTA-Bewertung den sehr heterogenen nationalen Gesundheitssystemen
nicht gerecht würde (vgl. 11) und in Deutschland eine sehr
gut funktionierende Zusammenarbeit zwischen einer unabhängigen
wissenschaftlichen Bewertungsinstitution (IQWiG) und dem normativen
Entscheidungsträger (G-BA) beendet würde (12). Dies führe
zwangsläufig zu einer Absenkung der hohen Standards, die in
Deutschland für die Bewertung von neuen Arzneimitteln mit dem
Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes eingeführt wurden
(13). Aus Sicht des Juristen und unparteiischen Vorsitzenden des
G-BA, Prof. Josef Hecken, „würde eine Zentralisierung der
Bewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten, so wie jetzt von
der EC geplant, in unzulässiger Weise in die Autonomie und
Zuständigkeit der einzelnen Länder für ihre
Gesundheitssysteme eingreifen“ (12).
Mit diesem Vorschlag hat
die EC aus Sicht des ARZNEIMITTELBRIEFS einen zweiten vor dem
wichtigen ersten Schritt getan, nämlich eine Beteiligung aller
relevanten Institutionen (z.B. Europäische Arzneimittel-Agentur,
EunetHTA, Patientenorganisationen) an einer gemeinsamen Beratung der
pharmazeutischen Unternehmer im Rahmen eines „early dialogue“
bzw. „scientific advice“ zur Planung der für die
Zulassung relevanten („pivotal“) Studien der Phase III
(14, 15). Sehr berechtigte Anforderungen an die prozedurale und
wissenschaftliche Ausgestaltung des „scientific advice“
wurden kürzlich von unabhängigen Gesundheitsorganisationen,
unter Mitwirkung von ISDB und Prescrire, veröffentlicht (15).
Hierzu zählen vor allem auch eine größere Transparenz
hinsichtlich des „scientific advice“, den die Europäische
Arzneimittel-Agentur den pharmazeutischen Unternehmern gibt, und
eindeutige – nicht vertrauliche – Vorgaben für die
Durchführung der „pivotal“ randomisierten
kontrollierten Studien (15).
Diese Form der Beratung
und Zusammenarbeit ist aber dringend erforderlich, denn die
Ergebnisse von Zulassungsstudien zu neuen Arzneimitteln sind heute
häufig nur sehr eingeschränkt geeignet, einen
patientenorientierten Zusatznutzen zu belegen. Sie werden bekanntlich
vom pharmazeutischen Unternehmer vor allem dazu genutzt, die im
Arzneimittelgesetz geforderten Nachweise der Wirksamkeit, der
Unbedenklichkeit und der pharmazeutischen Qualität zu erbringen.
Zahlreiche Untersuchungen haben die Unzulänglichkeiten in den
für die Zulassung relevanten („pivotal“) Studien
beschrieben (Übersicht in 16), die heute die Übertragbarkeit
der Ergebnisse auf die Behandlung von Patienten unter
Alltagsbedingungen in Klinik und Praxis (externe Validität)
vermindern. Hierzu zählen vor allem: die häufig strikten
Ein- und Ausschlusskriterien, die Verwendung von Surrogat- bzw.
kombinierten Endpunkten, die unzureichende Berücksichtigung
patientenrelevanter Parameter (z.B. gesundheitsbezogene
Lebensqualität) und die häufig zu kurzen Zeiträume der
Behandlung und Nachbeobachtung. Dies gilt insbesondere für
Arzneimittel, die von der EC nach den – heute leider immer
häufigeren – beschleunigten Verfahren zugelassen werden.
Literatur
- http://ec.europa.eu/transparency/...

- http://europa.eu/rapid/press-release_IP-18-486_en.htm

- http://eur-lex.europa.eu/...

- https://ec.europa.eu/germany/news/ 20180131-gesundheitstechnologien_de

- http://eunethta.eu/...

- http://www.eunethta.eu/news/ press-release-ema-and- eunethta-step-interaction-align-data-requirements

- AMB 2010, 44, 89.

- https://www.vfa.de/de/presse/ pressemitteilungen/pm-002-2018-europa-sorgt-fuer-frischen-wind- in-der-nutzenbewertungsdiskussion.html

- https://www.bah-bonn.de/de/ presse/pressemitteilungen/artikel/ bah-begruesst-einheitliches-vorgehen-bei- der-klinischen-bewertung-von-arzneimitteln/

- https://www.aerzteblatt.de/...

- Panteli, D., et al.: Health Syst. Transit. 2016, 18, 1.

- https://www.g-ba.de/institution/presse/pressemitteilungen/732/

- https://www.gkv-spitzenverband.de/gkv_spitzenverband /presse/pressemitteilungen_und_statements/ pressemitteilung_656513.jsp

- http://www.ema.europa.eu/...

- https://epha.org/recommendations-on-a-new- model-for-the-provision-of- scientific-advice/

- Ludwig, W.-D.: Zulassungsverfahren für neue Arzneimittel in Europa. In: Arzneiverordnungs-Report 2017. Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.). Berlin: Springer-Verlag, 2017; S. 33-53.
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