Zusammenfassung: Die
größte bisher durchgeführte Metaanalyse zur
Behandlung mit Antidepressiva kommt zu dem Schluss, dass
Antidepressiva bei mittelschweren und schweren Episoden einer
unipolaren Depression durchweg wirksamer sind als Plazebo. Die
Akzeptanz der Therapie –
gemessen an
der Abbruchrate („dropout rate“)
–
variiert sehr stark zwischen den einzelnen Wirkstoffen, liegt aber im
Mittel im Bereich von Plazebo. Die Effektstärke ist moderat, und
es sind keine speziellen Klasseneffekte bei den Wirkstoffen
erkennbar, was Zweifel an den behaupteten Wirkmechanismen weckt.
Einige Antidepressiva scheinen in der Erstlinientherapie günstiger
zu sein als andere. Die Beweiskraft dieser Aussagen wird u.a. dadurch
eingeschränkt, dass 91% der untersuchten 522 Studien ein
mittleres oder hohes Risiko für Verzerrung der Ergebnisse (Bias)
haben. Zudem darf diese grundsätzlich positive Einschätzung
nicht auf mildere Formen, eine längere Behandlung (> 8 Wochen),
auf eine Zweitlinientherapie bei Non-Respondern, auf Kinder und
Jugendliche und andere Formen von Depressionen übertragen
werden.
„Das
Verordnungsvolumen von Antidepressiva (AD) ist nicht nur in
Deutschland, sondern in vielen Ländern, incl. USA, irritierend
hoch“ –
das schreiben die Autoren des Kapitels „Psychopharmaka“
im Arzneiverordnungs-Report 2017. 2016 wurden in Deutschland
1,46 Mrd. Tagesdosen AD verordnet. Das entspricht einer Zunahme
um 67% in den letzten 10 Jahren. Eine rational begründete
Indikation wird bezweifelt (1), eine Überversorgung ist sehr
wahrscheinlich. Ein wichtiger Grund für die häufige und
weiter steigende Verordnung von AD dürfte sein, dass deren
Nutzen überschätzt und die Behandlungsrisiken unterschätzt
werden (vgl. 10, 11).
Bei der medikamentösen
Behandlung von Depressionen gibt es ausgeprägte Plazeboeffekte
(2, 13). Während bei leichten Depressionen (≤ 15 Punkte
auf der Hamilton-D17-Skala; vgl. 10) Plazebos oder
Pseudoplazebos (niedrige und weitgehend wirkungslose Dosis eines
Wirkstoffs) etwa gleich wirksam sind wie AD, sind diese bei
mittelschweren bis schweren Depressionen wirksamer als Plazebo (3).
Bei den schweren Formen der Depression profitieren bis zu 30% der
Patienten über den Plazeboeffekt hinaus von der Einnahme eines
AD (3). Daher soll nach der Nationalen VersorgungsLeitlinie (NVL)
„Unipolare Depression“ Patienten mit akuter
mittelschwerer depressiver Episode eine medikamentöse Therapie
angeboten werden (Empfehlungsgrad A). Außerdem soll bei
akuten schweren depressiven Episoden eine Kombinationsbehandlung mit
AD und Psychotherapie durchgeführt werden (Empfehlungsgrad A).
Weniger klar ist, welches
AD verwendet werden soll. Die NVL empfiehlt als Auswahlkriterien
heranzuziehen: Verträglichkeit, Sicherheit im Falle von
Überdosierung, Ansprechen in einer früheren
Krankheitsepisode, Handhabbarkeit, Anwendungserfahrung, Möglichkeiten
bei Nichtansprechen, Komorbiditäten, Komedikation sowie
Patientenpräferenzen (3, vgl. 10). Weltweit sind > 40
verschiedene AD zugelassen; Marktführer in Deutschland waren
2016 Citalopram (290 Mio. Tagesdosen), Venlafaxin (189 Mio
Tagesdosen) und Mirtazapin (180 Mio. Tagesdosen; 1). Die
Auswahl des Präparats erfolgt nicht selten nach lokalen
Gepflogenheiten und dem Geschick des Marketings.
Im Februar wurde im
Lancet die größte Metaanalyse veröffentlicht, die
jemals zur Therapie von Depressionen mit AD durchgeführt wurde
(4). Sie fand sofort ein sehr breites Echo in den Laienmedien
(„Antidepressiva effektiver als Placebo“; 5). Eine
Gruppe aus Oxford, Kyoto, Bern, Paris, München, Portland,
Bristol und Stanford hat eine Netzwerk-Metaanalyse durchgeführt,
in der 21 verschiedene AD indirekt und direkt miteinander verglichen
wurden. Diese Mammutaufgabe wurde mit öffentlichen Geldern aus
Großbritannien und Japan finanziert (Grants vom National
Institute for Health Research, dem Oxford Health Biomedical Research
Centre und der Japan Society for the Promotion of Science). Nur 4 der
18 Autoren geben Interessenkonflikte mit der Pharmaindustrie an.
Eingeschlossen wurden nur
doppelblinde, randomisierte, kontrollierte Studien (RCT), in denen
ein orales AD zur akuten Erstlinien-Therapie einer unipolaren
mittelschweren oder schwereren depressiven Episode bei Erwachsenen
getestet und mit Plazebo oder einem zweiten AD verglichen wurde. Es
wurden nur AD einbezogen, die in den USA, Europa und/oder Japan
zugelassen sind und in üblichen Dosen verwendet wurden
(s. Tab. 1). Ausgeschlossen waren u.a. Studien mit
unzureichender Randomisierung, nicht vollständig zu erhebenden
Daten, einem größeren Anteil von Patienten mit bipolarer
Störung oder mit einer behandlungsresistenten Depression.
Studien zur Wirksamkeit und dem Stellenwert von Lithium (vgl. 16)
oder Johanniskraut (17) wurden nicht einbezogen.
Nach den Studien wurde in
den üblichen Datenbanken (Pubmed, Embase etc.) gesucht, sowie in
Studienregistern (z.B. ClinicalTrials.gov), den Webseiten der
Zulassungsbehörden (FDA, EMA) sowie der pharmazeutischen
Unternehmer (pU). Es wurde also auch systematisch nach
nicht-publizierten Studienergebnissen gefahndet. Bei fehlenden Daten
wurden die Studienverantwortlichen kontaktiert und um Zusendung der
Daten gebeten. Sechs Autorenpaare wählten dann die in Frage
kommenden Studien unabhängig voneinander aus. Von den mehr als
28.500 Treffern nach der Primärsuche kamen 680 Studien
in die engere Auswahl und wurden im Volltext gelesen. Infolge von
Doppelpublikationen und aufgrund anderer Ausschlusskriterien
verblieben 522 Studien für die Metaanalyse; von diesen war
fast jede Fünfte (n = 101) nicht publiziert.
Aus diesen Studien wurden
nun alle relevanten Informationen für die Vergleichsberechnungen
entnommen. Die Extraktionstabelle wird allen Lesern barrierefrei auf
Mendely©
zur Verfügung gestellt (6). Neben den primären Analysen der
Daten wurden auch das Risiko für einen Bias nach dem Cochrane
Handbuch (7) und die Sicherheit der Evidenz an Hand der
GRADE-Kriterien (Grading
of Recommendations
Assessment,
Development
and Evaluation)
bewertet (8).
Primäre Endpunkte
waren die Wirksamkeit der Behandlung nach 8 Wochen
(„Effektivität“, Definition: Anteil der Patienten
mit einer Symptomreduktion um ≥ 50%, gemessen mit einer
standardisierten Depressionsskala) und die „Akzeptanz“
der Behandlung (Definition: Therapie-Abbruchrate, unabhängig von
den Gründen; vgl. auch 12).
Ergebnisse:
In den 522 Studien aus den Jahren 1979-2016 wurden insgesamt
116.477 Patienten untersucht. Von pU wurden 78% der Studien
(n = 409) gesponsert; bei den übrigen war die
Finanzierung oft unklar. Bei mehr als der Hälfte der Studien
(n = 274) mussten für die Metaanalyse
nicht-publizierte Ergebnisse beschafft werden.
Die mittlere
Teilnehmerzahl pro Studie betrug 224 ± 186 (Spanne:
7-1019). Mit einem AD wurden 87.052 Patienten behandelt und 29.425
erhielten ein Plazebo. Das mittlere Alter der Patienten betrug
44 ± 9 Jahre, und 62,3% waren Frauen. Der
Ausgangswert auf der Hamilton-D17-Skala betrug im Mittel 25,7 ± 3,9
(die Skala reicht von 0-51; bei Werten ≥ 25 gilt eine
Depression als „schwer“; vgl. 10).
Die Ergebnisse der
Effektivitäts- und Akzeptanzberechnungen im Vergleich mit
Plazebo sind in Tab. 1 wiedergegeben. Im Hinblick auf die
Effektivität (Wirkstärke) waren alle getesteten AD der
Behandlung mit Plazebo überlegen mit einer Odds ratio (OR) von
2,13 (Amitriptylin; in Übereinstimmung mit 20, 21) bis 1,37
(Reboxetin). Die Autoren sprechen allerdings von bescheidenen
Effektgrößen. Die Therapie-Akzeptanz bei den AD –
auch hier verglichen mit Plazebo –
war sehr unterschiedlich: von OR 0,84 (Agomelatin; höchste
Akzeptanz) bis OR 1,30 (Clomipramin; niedrigste Akzeptanz), im Mittel
lag sie im Bereich von Plazebo.
Es gab eine Vielzahl von
Subanalysen, deren Ergebnisse hier stichpunktartig zusammengefasst
sind:
In
den Studien mit direkten Head-to-Head-Vergleichen waren die
Unterschiede der Effektivität zwischen den einzelnen AD etwas
größer als in den indirekten Vergleichen über
Plazebo (OR: 1,06-1,98; Referenzsubstanz war Reboxetin), was
nochmals Hinweise auf die große Bedeutung des Plazeboeffekts
gibt.
Agomelatin,
Amitriptylin, Escitalopram, Mirtazapin, Paroxetin, Venlafaxin und
Vortioxetin (s. dazu kritische Bewertung weiter unten) waren nach
den Head-to-Head-Studien die effektivsten AD (OR: 1,19-1,96)
und Fluoxetin, Fluvoxamin, Reboxetin und Trazodon die am wenigsten
wirksamen (OR: 0,51-0,84).
Ein
Gruppeneffekt war bei den verschiedenen Wirkstoffklassen (selektive
Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer, selektive
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, nichtselektive
Monoamin-Wiederaufnahmehemmer
u.a.) nicht erkennbar, was Zweifel an dem jeweils vermuteten
Wirkprinzip aufwirft.
Die
Dropout-Rate wegen Nebenwirkungen war bei allen AD (bis auf
Agomelatin) höher als bei Plazebo (OR: 1,64-4,44).
Amitriptylin, Clomipramin, Duloxetin, Fluvoxamin, Reboxetin,
Trazodon und Venlafaxin hatten die höchsten Dropout-Raten.
Bei
AD, die zum Zeitpunkt der Studiendurchführung neu waren, fanden
sich größere Therapieeffekte als bei etablierten AD
(„novelty effect“).
Ältere
Studien und RCT mit kleinen Patientenzahlen zeigen eine größere
Effektivität der AD gegenüber Plazebo als Studien jüngeren
Datums oder mit großen Teilnehmerzahlen (gilt besonders für
Amitriptylin, Bupropion, Fluoxetin und Reboxetin).
Eine
Studienfinanzierung durch pU war nicht mit besseren Ergebnissen
hinsichtlich der Effektivität und Akzeptanz assoziiert. Die
Aussagekraft dieser Subanalyse ist allerdings aufgrund der geringen
Zahl unabhängiger Studien stark einschränkt.
Das Risiko für einen
relevanten Bias wurde bei 46 Studien (9%) als hoch, bei 380
(73%) als moderat und bei 96 (18%) als gering eingeschätzt.
Hauptkritikpunkte waren Unklarheiten bei der Randomisierung und der
Gruppenzuteilung, eine unsichere Verblindung der Nachuntersucher, ein
Abweichen
vom Protokoll sowie ein häufiges vorzeitiges Ausscheiden aus der
Studie (attrition
bias). Die
GRADE-Bewertung für die Beweiskraft fiel entsprechend bei den
meisten Studien nur mittelmäßig und bei den Studien mit
Vortioxetin, Nefazadon, Clomipramin, Bupropion und Amitriptylin sogar
besonders schlecht aus.
Die Schlussfolgerung,
dass AD bei schweren Episoden einer unipolaren Depression bei
gleicher Therapieakzeptanz durchweg wirksamer sind als Plazebo, wird
von den Autoren dahingehend eingeschränkt, dass sich viele
nachteilige Wirkungen der AD erst nach einer längeren Behandlung
als 8 Wochen zeigen. Die scheinbar positive
Nutzen-Risiko-Relation könnte sich also nach mehreren Monaten
Therapie als weniger günstig darstellen. Daher seien auch
Metaanalysen für die Langzeitanwendung von AD erforderlich,
zumal diese ja sehr häufig über viele Monate und Jahre
verordnet werden. Als weitere wichtige Einschränkung wird die
Beschränkung auf die Mono- und Erstlinientherapie genannt.
Schliesslich kreist die
Diskussion um das der AD-Therapie zu Grunde liegende pharmakologische
Konzept. Die Ergebnisse bei Erwachsenen unterscheiden sich nach
Angaben der Autor(inn)en grundsätzlich von denen bei Kindern und
Jugendlichen. Bei
diesen wird eine Pharmakotherapie wegen unklarer
Nutzen-Risiko-Relation überhaupt erst ab einem Alter von
8 Jahren empfohlen –
zuvor kognitiv-verhaltenstherapeutische oder eine interpersonelle
Psychotherapie (vgl. 18). Hiernach wird Fluoxetin als Mittel der
Wahl genannt, da nur für dieses ausreichend Evidenz gesehen
wurde, depressive Symptome zu lindern. Zum gleichen Ergebnis kam auch
eine Metaanalyse aus dem Jahre 2016 (19) von der Erstautorin dieser
Metaanalyse (4). Die
heterogene Wirksamkeit von AD bei verschiedenen Altersgruppen könnte
auf unterschiedliche Mechanismen und Ursachen von Depressionen
hinweisen oder auf bedeutsame methodische Probleme bei Erwachsenen-
und pädiatrischen Studien (z.B. Unterschiede beim Ausmaß
des Plazeboeffekts). Ein
großes methodologisches Problem in diesem Zusammenhang ist
auch, dass in den allermeisten Studien keine aktiven Plazebos
verwendet wurden, also solche mit spürbaren Wirkungen wie
Mundtrockenheit. Durch die Verwendung inaktiver Plazebos ist die
Verblindung der Patienten gefährdet und es besteht ein hohes
Risiko, dass das Ergebnis zu Gunsten der Antidepressiva verzerrt
wird. Auch
die mögliche Bedeutung der nicht medikamentösen
Begleittherapie auf die Studienergebnisse sei an dieser Stelle der
Vollständigkeit halber noch erwähnt. Gerade bei indirekten
Vergleichen über einzelne Studien hinweg kann dieser Störfaktor
das Ergebnis bedeutsam verzerren.
Zwei klinische Psychiater
aus Ann Arbor und Toronto kommentieren die Metaanalyse und lehnen
sich nach unserer Einschätzung sehr weit aus dem Fenster (9).
Sie nennen drei AD, die auf Grund ihrer günstigen
Nutzen-Risiko-Relation als Mittel der ersten Wahl bei schwerer
Depression verwendet werden sollten (Agomelatin, Escitalopram und
Vortioxetin) und raten zugleich Fluvoxamin, Reboxetin und Trazodon in
der Initialtherapie zu vermeiden. Die Empfehlung von Vortioxetin muss
allerdings sehr kritisch gesehen werden angesichts der Beurteilung
des Gemeinsamen Bundesausschusses und seiner Begründung „ein
Zusatznutzen ist nicht belegt“ (14) sowie einer anderen
ausführlichen Darstellung und Auswertung der Studien zu diesem
AD (15). Der Schweregrad einer Depression oder andere
Patientenmerkmale könnten allerdings auch zu einer anderen
Medikamenten-Auswahl führen (z.B. Amitriptylin bei besonders
schwerer Depression). Auch sei der bekannte Aspekt des sehr
heterogenen interindividuellen Ansprechens auf einzelne AD nicht
ausreichend berücksichtigt worden. Es gäbe gewisse Merkmale
(klinische oder neurophysiologische Phänotypen), die ein
Ansprechen auf ein bestimmtes AD möglicherweise voraussagen
könnten, was in der Zukunft bei der Auswahl eines AD hilfreich
sein könnte.
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