Zusammenfassung: Die
Zahl der Patienten, die mit oralen Antikoagulanzien (OAK) behandelt
werden, hat sich in den letzten Jahren durch Einführung der
direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) mehr als verdoppelt. Zugleich
hat sich die Zahl der Meldungen über Komplikationen im
Zusammenhang mit dieser Therapie mehr als vervierfacht. Nach einer
belgischen Beobachtungsstudie geht mehr als die Hälfte dieser
Komplikationen auf Fehler im Medikationsmanagement zurück. Hier
besteht also ein erheblicher Verbesserungsbedarf, besonders bei den
DOAK. Ein fehlerhafter oder zu laxer Umgang mit DOAK ist zunehmend zu
beobachten und dürfte die geringen klinischen Vorteile gegenüber
Vitamin K Antagonisten (VKA) aufheben. Die Europäische Heart
Rhythm Association hat nun zur Verbesserung der unbefriedigenden
Situation einen Praxisleitfaden zur Verwendung von DOAK bei Patienten
mit Vorhofflimmern herausgegeben, in dem u.a. Zeitintervalle für
klinische Nachsorge und Laborkontrollen vorgeschlagen werden. Es
zeigt sich, dass die Verordnung und Überwachung der Therapie mit
DOAK doch viel komplexer ist, als es das Marketing der
pharmazeutischen Unternehmer und viele Experten dargestellt haben.
In den letzten Jahren ist
die Zahl der Patienten, die mit OAK behandelt werden, deutlich
angestiegen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass vermehrt
DOAK verschrieben werden (1). Auch die Zahl der therapieassoziierten
Komplikationen hat zugenommen. Der Europäischen Datenbank mit
Verdachtsfällen von Arzneimittelnebenwirkungen (EudraVigilance)
wurden 2017 aus den europäischen Mitgliedstaaten insgesamt
10.982 schwerwiegende unerwünschte Ereignisse (UAE) im
Zusammenhang mit einer OAK-Therapie gemeldet. Im Jahr 2010 waren es
noch 2.379 (2). Die Zunahme um den Faktor 4,6 ist wahrscheinlich
hauptsächlich bedingt durch den vermehrten Einsatz von OAK und
die erhöhte Meldebereitschaft bei UAE mit neuen Arzneimitteln
(s. Abb. 1). UAE sind unter VKA nicht seltener als unter
DOAK, werden aber vermutlich als altbekannt angesehen und daher
seltener gemeldet.
Eine Komplikation unter
OAK-Behandlung kann als Nebenwirkung bei bestimmungsgemäßem
Gebrauch oder in Folge eines Medikationsfehlers auftreten (vgl. 9).
Häufige Medikationsfehler bei OAK sind beispielsweise
Einnahmefehler, eine lückenhafte Überwachung von Blutbild,
Leber- und Nierenwerten, die ungenügende Anpassung der Dosis an
eine nachlassende Nierenfunktion oder die Missachtung
pharmakokinetischer oder -dynamischer Wechselwirkungen.
Eine belgische Gruppe um
die klinische Pharmazeutin Anne-Laure Sennesael vom Louvain Drug
Research Institute in Brüssel hat in einer prospektiven
Beobachtungsstudie untersucht, ob thromboembolische und
hämorrhagische Komplikationen, die unter OAK-Behandlung (VKA und
DOAK) aufgetreten waren, hätten vermieden werden können.
Hauptaugenmerk wurde dabei auf die Bedeutung ursächlicher
Medikationsfehler gelegt (3).
Hierzu wurden durch ein
Projektteam (klinische Pharmazeuten und Hämatologen) alle
Patienten analysiert, die sich zwischen Juli 2015 und Januar 2016 in
der Notaufnahme zweier belgischer Lehrkrankenhäuser wegen einer
Thromboembolie oder einem Blutungsereignis vorstellten und OAK
einnahmen. Beides, Blutung und Thromboembolie (ischämischer
Schlaganfall, transitorische ischämische Attacke (TIA),
systemische Embolie, tiefe Beinvenenthrombose, Lungenembolie) wurden
als Komplikation der OAK-Behandlung angesehen. Jeder dieser „Fälle“
wurde individuell durch das Projektteam analysiert. Die
OAK-Verordnung wurde an Hand des Medication Appropriateness Index
(MAI; vgl. 4) auf ihre Angemessenheit überprüft.
Hierbei wird die Verordnung nach 10 Kriterien bewertet (u.a.
Indikation, korrekte Präparateauswahl, Dosierung, potenzielle
Wechselwirkungen etc.). Darüber hinaus erfolgte eine Bewertung
von Kausalität (nach Naranjo; 5) und Schweregrad (nach Kriterien
der Europäischen Arzneimittel-Agentur; 6). Die schwerwiegenden
UAE wurden auf ihre Vermeidbarkeit überprüft (nach Hallas;
7). Bei erkennbaren Medikationsfehlern wurde der Schritt im
Medikationsprozess benannt, bei dem der Fehler gemacht wurde (z.B.
bei der Verordnung, der Einnahme oder bei der Therapieüberwachung).
Zudem erfolgten mit den beteiligten Hausärzten Interviews über
die nach ihrer Meinung häufigsten Fehlerquellen im Zusammenhang
mit einer OAK-Behandlung.
Ergebnisse:
Es wurden insgesamt 89 Patienten mit einer UAE gefunden. Davon
hatten 19 eine thromboembolische UAE (meist TIA) und 70 eine Blutung,
zumeist eine gastrointestinale (n = 39) oder eine
intrakranielle (n = 18). 46 Patienten nahmen ein DOAK und
43 einen VKA ein.
Das Durchschnittsalter
der eingeschlossenen Patienten betrug 79 Jahre; 54% waren
Männer. Die Hauptindikationen für das OAK waren
nicht-valvuläres Vorhofflimmern und die Sekundärprävention
venöser Thromboembolien. Bei nahezu 90% der Patienten hatten
Spezialisten die Indikation für die OAK gestellt (46%
Kardiologen), nur bei 12% die Hausärzte. Die meisten Patienten
erhielten schon länger als ein Jahr ein OAK; nur bei 5 Patienten
trat die UAE innerhalb des ersten Behandlungsmonats auf.
In der DOAK-Kohorte
wurden 38 der 48 UAE als schwerwiegend bewertet (79%) und 53% von
diesen als vermeidbar. In der VKA-Kohorte wurden 41 der 43 UAE als
schwerwiegend (95%) eingeschätzt und 61% von diesen als
vermeidbar. Als vermeidbar wurde eine UAE angesehen, wenn sie auf
einen Medikationsfehler zurückzuführen war. Die häufigsten
Medikationsfehler, welche zu einer schwerwiegenden UAE führten,
waren: Arzneimittelinteraktionen (n = 14, meist die
Kombination von OAK mit Azetylsalizylsäure oder einem
nichtsteroidalen Antiphlogistikum); Behandlung mit einem für den
Patienten ungeeigneten OAK (n = 10); mangelnde
Therapie-Adhärenz (n = 10); unzureichende
Therapieüberwachung (n = 10); nicht vorhandene
Indikation zur OAK (n = 7); fehlerhafte Dosis (n = 4)
und Fehler bei der Übermittlung von Informationen (n = 3),
z.B. Weitergabe falscher INR-Werte.
In den Interviews mit den
Hausärzten wurden noch weitere Probleme benannt, die zu
Unsicherheiten in Zusammenhang mit einer OAK Behandlung führen:
unzureichende Einsicht
der Patienten über die Notwendigkeit und tatsächlichen
Risiken der OAK-Behandlung (Schulungsdefizite),
Verunsicherung der
Patienten durch skandalisierende Medienberichte,
Selbstmedikation mit
rezeptfreien Präparaten mit Interaktionspotenzial,
Funktionsstörungen
bei älteren Patienten (kognitiver Abbau und Sturzneigung),
verharmlosendes
Marketing der DOAK-Hersteller,
Kontaktverlust mit den
DOAK-Patienten durch fehlende INR-Kontrollen,
Zeitmangel in der
Hausarztpraxis,
fehlende Einbeziehung
der Hausärzte bei OAK-Umstellungen,
Informationsabbrüche
zwischen Hausärzten, Krankenhausärzten und Pflegenden,
mangelndes
Selbstbewusstsein der Hausärzte, die Empfehlungen der
Spezialisten kritisch zu hinterfragen oder zu verändern.
Diese qualitativen Daten
aus der Versorgungsforschung zeigen, dass zwischen den Ergebnissen
aus den Zulassungsstudien (vgl. 13) und der Praxis eine große
Lücke klafft. Die vermeintlichen Vorteile der DOAK gegenüber
den VKA könnten durch ein laxes Medikationsmanagement wieder
verloren gehen. Aus unserer Sicht müssen Themen wie korrekte
Indikationsstellung, Auswahl des für den Patienten am besten
geeigneten OAK, Interaktionen, Patientenschulung und Adhärenz
deutlich stärker beachtet werden.
Da auch immer wieder zu
beobachten ist, dass bei DOAK-Patienten klinische und laborchemische
Kontrollen unterbleiben, sei an dieser Stelle daran erinnert, dass
eine regelmäßige klinische Überwachung auf Blutungen
laut Fachinformationen aller DOAK vorgeschrieben ist und zumindest
bei Dabigatran auch mindestens einmal jährlich die
Nierenfunktion überprüft werden muss (8). Wie lax mit dem
Problem Dosisanpassung an die Nierenfunktion umgegangen wird, zeigt
eine retrospektive Analyse von Versicherungsdaten aus den USA. Etwa
10% der Patienten, die neu ein DOAK verordnet bekamen (n = 1.473),
hätten laut Fachinformationen auf Grund einer eingeschränkten
Nierenfunktion eine reduzierte Dosis erhalten müssen.
Tatsächlich erhielten aber 43% die Standarddosis. Das Risiko für
Major-Blutungen war bei diesen überdosierten Patienten
signifikant erhöht (Hazard Ratio: 2,19; 95%-Konfidenzintervall:
1,07-4,46; vgl. 12).
Die Europäische
Heart Rhythm Association (EHRA) hat sich dem Problem
Medikationsmanagement bei DOAK nun ausführlich gewidmet und am
19. März einen Praxisleitfaden zur Verwendung von DOAK bei
Patienten mit Vorhofflimmern herausgegeben. Fünf pharmazeutische
Unternehmer (pU) unterstützten finanziell die Erstellung des
Praxisleitfadens und waren auch an Diskussionen zu seinen Inhalten
durch Berater vertreten. Diese Empfehlungen sind frei im European
Heart Journal einsehbar (10). Grundsätzlich sehen wir diesen
Leitfaden kritisch, da er durchgehend der Empfehlung der Europäischen
Gesellschaft für Kardiologie (ESC) folgt, bevorzugt DOAK
einzusetzen. Dies widerspricht unserer Auffassung und auch den
aktuellen Empfehlungen der Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (8). Neben vielen praktischen Hinweisen zum
Medikationsmanagement, u.a. zur individuellen Präparateauswahl
vor dem Hintergrund der Komorbiditäten oder den vielen zu
berücksichtigenden Interaktionen, wird in dem EHRA-Leitfaden
auch sehr detailliert die Nachsorge bei Behandlung mit DOAK
besprochen (vgl. Abb. 2).
Vier nach unserer Ansicht
besonders erwähnenswerte Aspekte, die jedoch im Alltag schwer
umzusetzen sind, seien hier aufgeführt:
Auch
bei einer Behandlung mit DOAK soll durch den Erstverordner ein
Gerinnungshemmer-Ausweis ausgestellt werden. Dieser sollte von den
Verantwortlichen für die Nachsorge (Hausärzte oder
Gerinnungsambulanz) weitergeführt werden. Ein einheitlicher
DOAK-Ausweis soll in Kürze unter www.NOACforAF.eu erhältlich
sein. Bei den aktuell verfügbaren Ausweisen, die meist von den
pU verteilt werden, sind nur sehr wenige Informationen zum Patienten
und zu Begleiterkrankungen enthalten.
Die
für die Nachsorge Verantwortlichen bewerten die Eignung des
gewählten DOAK sowie die Dosierung und Interaktionen mit der
Komedikation regelmäßig neu, und sollen bedarfsweise
Änderungen vornehmen. Der Erstverordner soll in derartige
Entscheidungen eingebunden werden, bleibt also mit in der
Verantwortung (vgl. 11).
Die
große Bedeutung, die Aufklärung und kontinuierlichen
Schulung der Patienten haben –
sowohl bei der Erstverordnung als auch bei jeder Nachsorge.
Die
Nachsorgeintervalle werden vorgegeben: erste Kontrolle ein Monat
nach der Erstverordnung; im Weiteren dann
klinische Kontrollen ±
alle 3 Monate, maximal 6 Monate in Abhängigkeit von
Patientenfaktoren wie Alter, Nierenfunktion und Komorbiditäten.
Laborkontrollen
sollen nach folgendem Schema erfolgen:
mindestens
einmal jährlich: alle Patienten,
mindestens
alle 6 Monate: Patienten ≥ 75 Jahre
(besonders, wenn sie Dabigatran erhalten) sowie gebrechliche
Patienten,
x-monatlich:
bei
Kreatinin-Clearance ≤ 60 ml/min nach der Formel: x =
Kreatinin-Clearance/10 (also bei 30 ml/min = 3-monatlich),
bedarfsweise:
bei allen Zuständen, die die Nieren- oder Leberfunktion
beeinträchtigen können.
Literatur
-
Hein, L., und Wille, H.
in:
Schwabe, U., Paffrath, D., Ludwig, W.-D., Klauber, J. (Hrsg.):
Arzneiverordnungs-Report 2017. Springer-Verlag GmbH 2017. S. 353.
-
http://www.adrreports.eu
(Abfrage am 17.5.2018).

-
Sennesael,
A.L., et al.: Br.
J. Clin. Pharmacol. 2018 Mar 9. doi: 10.1111/bcp.13580.
-
Hanlon,
J.T., et al.: J.
Clin. Epidemiol. 1992, 45,
1045.
-
Naranjo,
C.A., et al.: Clin. Pharmacol. Ther. 1981, 30,
239.
-
Guideline
on Good Pharmacovigilance Practices (GVP). Annex I –
Definitions: European Medicines Agency, 2016 [online].
-
Hallas, J., et al.: J.
Intern. Med.
1990, 228,
83.
-
AkdÄ-Leitfaden
„Orale Antikoagulation bei nicht valvulärem
Vorhofflimmern“:
-
AMB 2015, 49,
22.

-
Steffel, J., et al.:
Eur. Heart
J. 2018, 39,
1330.
-
AMB 2017, 51,
14.

-
Yao, X., et al.: J. Am.
Coll.
Cardiol. 2017, 69,
2779.

-
AMB
2014, 48,
41.

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