Zusammenfassung: Eine retrospektive
Analyse von Versicherungsdaten aus Deutschland zu klinischen Folgen
einer Therapie mit direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) im
Vergleich zu Phenprocoumon kam zu unerwarteten Ergebnissen. So traten
unter Rivaroxaban nicht weniger Blutungen auf als unter
Phenprocoumon, und die Gesamtletalität war unter Rivaroxaban
deutlich höher als unter Phenprocoumon. Unter Apixaban kam es
signifikant häufiger zu Schlaganfällen als unter
Phenprocoumon. Ob diese Ergebnisse in der Studienmethodik begründet
sind oder auf einer selektiven Verschreibungspraxis oder einer
unzureichenden Nachsorge der DOAK-Patienten beruhen, müssen
weitere Studien zeigen. Auf jeden Fall sollte der Wahl des für
einen Patienten am besten geeigneten oralen Antikoagulanz sowie der
wirksamsten und sichersten Dosierung neben dem Therapiemonitoring
(vgl. 5) viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden.
Die Ergebnisse einer Metaanalyse zu
den neuen DOAK haben wir im Jahr 2014 wie folgt interpretiert: „Die
gepoolten Daten der vier großen Phase-III-Studien mit den
verschiedenen DOAK bei Vorhofflimmern zeigen (..), dass ischämische
Insulte gleich häufig reduziert werden wie mit
Vitamin-K-Antagonisten (VKA). Ein Vorteil der DOAK scheint also zu
sein, dass weniger hämorrhagische Schlaganfälle und
Hirnblutungen auftreten als unter Therapie mit VKA – unabhängig
von der Güte der INR-Einstellung. Zudem scheint auch die
Gesamtletalität unter Behandlung mit DOAK etwas geringer zu
sein. DOAK in niedriger Dosierung reduzieren Schlaganfälle in
geringerem Maße als VKA, induzieren aber auch seltener
Blutungen – somit wahrscheinlich eine Option bei
blutungsgefährdeten Patienten“. (1).
Diese Einschätzung beruht auf
Daten, welche unter optimalen Studienbedingungen an vielen Zentren
weltweit und mit dem bei uns unüblichen VKA Warfarin erhoben
wurden. Ob sie auch für die deutsche Versorgungsrealität
gilt und ob Unterschiede in Wirksamkeit und Sicherheit zwischen den
einzelnen DOAK verglichen mit Phenprocoumon bestehen, haben nun
Mediziner und Gesundheitswissenschaftler untersucht, u.a. der
Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ),
PMV-Forschungsgruppe an der Universität zu Köln und des
Wissenschaftlichen Instituts der Allgemeinen Ortskrankenkasse
(WIdO; 2). Sie analysierten retrospektiv den klinischen Verlauf
von neu mit oralen Antikoagulanzien (OAK) behandelten Patienten, die
in Deutschland bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK)
krankenversichert sind. Alle Versicherten, die zwischen Januar 2012
und Dezember 2013 erstmals wegen Vorhofflimmerns ein OAK erhielten,
wurden in die Analyse eingeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt waren in
Deutschland 3 DOAK zugelassen: Dabigatran, Rivaroxaban sowie
Apixaban (ab Dezember 2012). Ausgeschlossen wurden Patienten mit
anderen Diagnosen, die eine OAK erforderlich machen, z.B.
Beinvenenthrombose, Lungenembolie oder künstliche Herzklappe.
Die Diagnosen (ICD-10 Codes) wurden aus den für die
Krankenhäuser obligatorischen Entlassungsmeldungen an die AOK
generiert. Weitere klinische Informationen (Dauerdiagnosen,
Komedikation, CHA2DS2-VASc-Score
etc.) wurden ebenfalls aus den AOK-Versicherungsdaten (bis 180 Tage
vor dem Tag der Erstverordnung) ermittelt.
Primärer Studienendpunkt waren
alle Blutungen, die innerhalb eines Jahres nach dem Beginn der OAK zu
einer Krankenhausbehandlung führten. Sekundäre Endpunkte
waren das Auftreten eines ischämischen Schlaganfalls und Tod.
Die Ereignisraten der Patienten, die ein DOAK erhielten, sollten mit
denen von Patienten mit dem VKA Phenprocoumon verglichen werden.
Phenprocoumon ist der in Deutschland mit Abstand am häufigsten
verordnete VKA. Hierzu wurde jedem DOAK-Patienten ein mit
Phenprocoumon behandelter Patient gleichen Alters und Geschlechts
zugeordnet. Zum nachträglichen Ausgleich der sonstigen
Risikofaktoren (Confounder) erfolgte ein Propensity Score
(PS)-Matching (1:1 „nearest neighbour“ matching). Es
handelt sich also um eine retrospektive Kohortenstudie mit zwei
hinsichtlich der interessierenden Variablen verglichenen und 1:1
gematchten Kohorten.
Ergebnisse:
Insgesamt wurden in den 2 Jahren aus den AOK-Daten 215.000 wegen
Vorhofflimmerns neu mit OAK behandelte Patienten identifiziert. Es
erhielten 96.420 ein DOAK und 118.648 Phenprocoumon. Nach dem
PS-Matching blieben jeweils 87.997 Patienten mit DOAK (91,3% aller)
und mit Phenprocoumon (74,2% aller) für den Kohortenvergleich
übrig. Das am häufigsten verordnete DOAK war Rivaroxaban
(n = 59.449; Anteil 67,5%), gefolgt von Dabigatran
(n = 23.654; Anteil 27%) und Apixaban (n = 4.894;
Anteil 5,5%). Eine Analyse nach verwendeter Dosierung erfolgte nicht,
jedoch waren die Standardabweichungen bei den durchschnittlich
verbrauchten Tagesdosen teilweise beträchtlich.
Das mittlere Alter betrug in beiden
Kohorten 75,45 Jahre, ca. 54% waren Frauen. Die häufigste
Komorbidität war ein arterieller Hypertonus (82%). Die meisten
Patienten hatten einen CHA2DS2-VASc-Score
(vgl. 6) von 3-4 (40%) oder > 4 (41%). Zusätzlich
zu dem OAK nahmen 15% einen Thrombozytenfunktionshemmer ein und 33%
einen Protonenpumpenhemmer. Insgesamt war die Übereinstimmung
der klinischen Merkmale zwischen den beiden Kohorten sehr gut.
Von den mit Phenprocoumon behandelten
Patienten beendeten 20,5% die Therapie innerhalb der 365 Tage,
bei Rivaroxaban waren es 30%, bei Dabigatran 36,6% und bei Apixaban
33,2%. Die Gründe für diese Diskrepanz und für das
Absetzen sind unbekannt. Die mittlere Nachbeobachtungszeit war
entsprechend unterschiedlich lang und betrug bei Phenprocoumon 305,
bei Rivaroxaban 268, bei Dabigatran 234 und bei Apixaban 249 Tage.
Diese um 22% längere Expositionszeit mit Phenprocoumon gegenüber
den DOAK muss bei der Interpretation der Ergebnisse mit
berücksichtigt werden.
Während der Nachbeobachtungszeit
traten bei den 175.994 Patienten aus beiden Kohorten insgesamt 5.742
hospitalisierungsbedürftige Blutungsereignisse (3,2%) und 2.355
ischämische Schlaganfälle (1,3%) auf. Die Inzidenzen mit
den drei DOAK im Vergleich zu Phenprocoumon und die Hazard Ratios
sind in Tab. 1 dargestellt.
Im Folgenden werden die wesentlichen
Ergebnisse kurz zusammengefasst:
Unter
Dabigatran und Apixaban traten im Vergleich zu Phenprocoumon
signifikant weniger Blutungen auf, ähnlich wie in den für
die Zulassung relevanten Studien im Vergleich zu Warfarin (Minor-
plus Major-Blutungen). Dagegen gab es zwischen Phenprocoumon und
Rivaroxaban keine Unterschiede.
Unter
Rivaroxaban wurde eine signifikant höhere Gesamtletalität
gefunden als unter Phenprocoumon (Relatives Risiko: +17%). Dabei
handelt es sich nicht um vermehrte Todesfälle in Folge von
Schlaganfällen oder Blutungen, sondern um Todesfälle aus
anderen Ursachen.
Ebenso
wie in den Phase-III-Studien im Vergleich zu Warfarin traten
gastrointestinale Blutungen unter den DOAK Rivaroxaban (+28%) und
Dabigatran (+21%) häufiger und intrazerebrale Blutungen
seltener (-43% bzw. -60%) auf als unter Behandlung mit
Phenprocoumon. Bei Apixaban war dies anders: Es fand sich ein
geringeres Risiko bei beiden Blutungsorten, wobei die Ereigniszahl
insgesamt allerdings so gering ist, dass statistisch keine
Signifikanz erreicht wird.
Während
Schlaganfälle unter Rivaroxaban und Dabigatran etwa gleich
häufig auftraten wie unter Phenprocoumon, wurden unter Apixaban
signifikant mehr Schlaganfälle registriert (+84%).
Die Autoren können nicht
ausschließen, dass ihre teils überraschenden Befunde durch
residuale Störfaktoren (confounder) verursacht werden, die aus
den Versicherungsdaten nicht zu erkennen und daher nicht
herauszurechnen sind. So lagen für die Analyse keine Labordaten
vor, und die Schwere der Erkrankung, insbesondere aber die Qualität
der Antikoagulation mit Phenprocoumon (INR-Werte) konnten nicht
bestimmt werden. Denkbar ist, dass bestimmte Faktoren zu einer
selektiven Verordnung der Gerinnungshemmer geführt haben,
beispielsweise eine niedrige glomeruläre Filtrationsrate (GFR),
ein niedriger Body-Mass-Index (BMI), Gebrechlichkeit des Patienten
sowie auch tagesaktuelle Diskussion von Sicherheitsaspekten (z.B.
Rote-Hand-Briefe zu einzelnen Wirkstoffen) und regulatorische Aspekte
(Neuzulassungen). So könnten bestimmte DOAK bei gebrechlichen
Patienten bevorzugt oder in reduzierter Dosis eingesetzt worden sein
und zu einer vermeintlich höheren Sicherheit (weniger
Blutungen), aber auch zu einer geringeren Wirksamkeit geführt
haben (mehr Schlaganfälle oder sogar höhere Letalität).
Hierfür spricht der Befund, dass Apixaban in der Analyse mit
einer höheren Inzidenz von Schlaganfällen assoziiert war.
Eine aktuelle prospektive
Kohortenstudie mit über 130.000 britischen Patienten aus der
Allgemeinmedizin weist auch in die Richtung, dass die
unterschiedlichen klinischen Ergebnisse auf eine selektive
Verschreibungspraxis zurückgeführt werden können (7).
In dieser Kohorte war die Verordnung von reduzierten DOAK-Dosen u.a.
mit folgenden Faktoren assoziiert: höheres Lebensalter (10 Jahre
älter), weibliches Geschlecht, niedriger BMI und dem
Vorhandensein alterstypischer Komorbiditäten wie
Niereninsuffizienz, Herzinsuffizienz oder einer Vorgeschichte mit
Stürzen und Hüftfrakturen. Auch bei dieser Analyse fand
sich im Vergleich mit Warfarin eine signifikant höhere Letalität
unter Rivaroxaban (normale und reduzierte Dosis: HR: 1,1 bzw. 1,29)
und mit der niedrigen Apixaban-Dosis (HR: 1,27). Eine höhere
Letalität unter Rivaroxaban oder einer reduzierten
Apixaban-Dosis war in den Zulassungsstudien (ROCKET; vgl. 8 und
ARISTOTLE; vgl. 3) nicht aufgefallen, wobei der Anteil der
Patienten mit der geringeren Apixaban-Dosis in ARISTOTLE gerade
einmal 4,5% betrug (8).
Hohnloser et al. (4) fanden, ebenfalls
bei einer Analyse deutscher Versicherungsdaten, keine Häufung
von Schlaganfällen unter Apixaban (1,4 vs. 1,9 pro 100
Patientenjahre; HR: 0,77) bei immerhin 10.117 Patienten, die
dieses DOAK eingenommen hatten und auch keine erhöhte Letalität
mit der reduzierten Dosis (HR: 1,07). Sie errechneten auch keine
höhere Letalität unter Rivaroxaban (Risiko-adjustiert
jeweils 4,6 pro 100 Patientenjahre).
Letztlich sollten diese
unterschiedlichen Ergebnisse dazu führen, die zugelassenen DOAK
und deren Dosierungen (Standard vs. reduziert) nicht „in einen
Topf“ zu werfen. Wirkprinizipien, Pharmakodynamik und -kinetik
sowie Interaktionen sind nicht gleich. Zudem weichen die
Charakteristika der Patienten in den Zulassungsstudien oft deutlich
von denen im Alltag ab. So erhalten etwa ein Drittel der Patienten in
Dänemark reduzierte DOAK-Dosierungen (9). Dies kann, zumindest
bei den DOAK, bei denen reduzierte Dosierungen nicht konsequent
getestet wurden, zu unerwarteten Ergebnissen führen. Neben einer
konsequenteren Nachsorge bei Behandlung mit DOAK (vgl. 5) muss
in Zukunft den Differenzialindikationen von VKA und DOAK, sowie deren
optimaler Dosierung beim einzelnen Patienten noch mehr Beachtung
geschenkt werden.
Literatur
- AMB 2014,
48,
41.

- Ujeyl,
M., et al.: Eur. J. Clin. Pharmacol. 2018 Jun 16. doi:
10.1007/s00228-018-2504-7.
- AMB 2011, 45,
73.

- Hohnloser,
S.H., et al.: Thromb. Haemost. 2018, 118,
526.
- AMB
2018, 52,
41.

-
AMB 2012, 46,
17.

- Vinogradova,
Y., et al.: BMJ 2018, 362,
k2505.
- Granger,
C.B., et al. (ARISTOTLE
= Apixaban for the Prevention of Stroke in Subjects With Atrial
Fibrillation):
N. Engl. J. Med. 2011, 365,
981. Vgl.
AMB
2015, 49,
12
.
AMB
2014, 48,
41 .
AMB
2013, 47,
63 .
AMB
2011, 45,
73.
https://www.nejm.org/...

- Staerk,
L., et al.: J. Int. Med. 2017, 283,
45.
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