Es besteht inzwischen ein breiter
Konsens darüber, dass Kinder Zugang zu Arzneimitteln haben
sollten, die speziell für die Anwendung bei jungen Patienten
entwickelt und erforscht wurden (1). Die in der Europäischen
Union (EU) 2006 verabschiedete und im Januar 2007 in Kraft getretene
Verordnung über Kinderarzneimittel (Nr. 1901/2006; 1, 2)
verfolgt deshalb drei Hauptziele:
Förderung
und Ermöglichung einer hochwertigen Forschung zur Entwicklung
von Kinderarzneimitteln;
Gewährleistung,
dass im Laufe der Zeit die Mehrzahl der Kindern verabreichten
Arzneimittel speziell für eine solche Verordnung zugelassen
wird, und zwar mit geeigneten Darreichungsformen und Formulierungen;
Verbesserung
der Verfügbarkeit hochwertiger Informationen über
Arzneimittel, die Kindern verabreicht werden (1).
Um diese Hauptziele zu erreichen und
die Arzneimittel(therapie)sicherheit in der Pädiatrie zu
erhöhen, muss jedes Arzneimittel, das in der EU neu zugelassen
werden soll, für die Anwendung an Kindern und Jugendlichen
geprüft werden (1, 2).
Von 2007 bis 2016 wurden mehr als 260
neue Arzneimittel für Kinder (neue Genehmigungen für das
Inverkehrbringen und neue Indikationen) zugelassen (1). Trotz dieser
Fortschritte in Bezug auf Kinderarzneimittel in der EU, die
allerdings vor allem neue Arzneimittel und weniger die Wirkstoffe
betreffen, die bereits vor 2007 auf dem Markt waren, ist der
Off-Label-Use (OLU) von Arzneimitteln in der Pädiatrie weiterhin
ein großes Problem (3). Repräsentative Untersuchungen
ergaben beispielsweise, dass in der Neonatologie und auf
pädiatrischen Intensivstationen der Anteil an
zulassungsüberschreitender Anwendung eines Arzneimittels bei bis
zu 90% liegt (4, 5). Grundsätzlich muss bei OLU von
Arzneimitteln häufiger mit Nebenwirkungen gerechnet werden (5;
vgl. 6).
Das Verschreibungsverhalten in
Kinderkliniken ist sehr unterschiedlich, wobei die Häufigkeit
des OLU mit geringerem Alter der Kinder zunimmt, also bei den
Kleinsten relativ am häufigsten ist (7). In nationalen
Kohortenanalysen wurden in Italien 34%, in den USA 35% und in
Deutschland 38% aller Verschreibungen in Relation zum Gestationsalter
als OLU eingestuft (8). Über deutliche Unterschiede im
Verordnungsverhalten intensivmedizinischer Neonatologen bei der
Analgosedierung Frühgeborener mit besonders niedrigem Gewicht
wird in einer deutschen Studie berichtet (9). Bei Neugeborenen und
auch bei Kindern sind Antibiotika die am häufigsten verordneten
Arzneimittel, gefolgt von Arzneimitteln zur Behandlung von
Atemwegserkrankungen und Analgetika (zit. nach 10).
Jetzt wurde in einer von der
„Netherlands Organisation for Health Research and Development
ZonMw“ finanzierten, retrospektiven Kohortenstudie das
Verschreibungsverhalten von Neonatologen auf vier verschiedenen
Intensivstationen in den Niederlanden analysiert, und zwar zu vier
Indikationen: Schmerz, Intubation, zerebrale Krampfanfälle und
Hypotension (10). Dazu wurden die Behandlungsprotokolle von insgesamt
1.491 Neugeborenen über einen Zeitraum von 12 Monaten
ausgewertet (insgesamt 32.182 Behandlungstage). Das mediane
Gestationsalter betrug 32 Wochen und das mediane Geburtsgewicht
lag bei 1.865 g, wobei 14,5% der Neugeborenen ein Gewicht von
< 1000 g hatten. Im Median verbrachten die Neugeborenen
12 Tage (5-32 Tage) auf der Intensivstation.
Ergebnisse:
Insgesamt wurden 181 verschiedene Arzneimittel in knapp 11.000
Verschreibungen verordnet, von denen 23% als OLU im Hinblick auf das
Gestationsalter der Neugeborenen bewertet wurden. Unter OLU wurde
hier eine Anwendung verstanden, die in der Produktinformation nicht
zur Anwendung bei Neugeborenen ausgewiesen ist, definiert als
< 1 Monat seit der Geburt, oder eine Anwendung, die
nicht generell für Kinder zugelassen ist.
Bis zur Entlassung hatten 54% der
Neugeborenen mindestens einmalig eine Medikation als OLU erhalten.
Die Zahl der verordneten Medikamente lag im Median bei 5. Welche
Wirkstoffklassen (nach ATC-Index) verordnet und wie viel Prozent der
Wirkstoffe als OLU bewertet wurden, ist aus Tab. 1 ersichtlich.
Die insgesamt am häufigsten
verordneten Wirkstoffe waren Vitamin K, Cholecalciferol,
Coffein, Amoxicillin, Gentamicin, Tobramycin, Benzylpenicillin,
Paracetamol, Surfactant und Morphin, die sämtlich zugelassen
sind für die Anwendung bei Neugeborenen. Die Unterschiede im
Verschreibungsverhalten zwischen den vier einbezogenen
Intensivstationen waren umso größer, je weniger reif die
Neugeborenen waren, wobei in dieser Studie der OLU mit abnehmendem
Gestationsalter abnahm.
Eine gesonderte Analyse wurde über
die Unterschiede im Verordnungsverhalten der vier Intensivstationen
in Abhängigkeit vom Gestationsalter für die beiden
Kategorien kardiovaskulär und neurologisch wirksame Medikamente
durchgeführt. Die Autoren orientierten sich bei der Bewertung
der Dosierung an verschiedenen internationalen pädiatrischen
Dosierungstabellen wie The British National Formulary, Pediatric
Dosages by Lexicomp, Micromedex oder Pediatric Injectable Drugs. Seit
2017 erscheint The Dutch Paediatric Formulary mit regelmäßigem
Update (11). Klare Empfehlungen bzgl. der Indikation sind in diesen
Tabellen aber nicht enthalten. Bei der speziellen Analyse fiel ein
sehr unterschiedlicher Umgang mit Katecholaminen und der
Analgosedierung auf den vier Intensivstationen auf. Bei den
Verordnungen kardiovaskulärer Wirkstoffe für Frühgeborene
< 26 Wochen bestanden Unterschiede zwischen 0 und 6
verordneten Medikamenten. Hinsichtlich Antiepileptika ergaben sich
weniger deutliche Unterschiede, vermutlich als Folge einer –
allerdings nur auf Expertenmeinung basierenden – nationalen
Leitlinie mit Empfehlungen für die Anwendung von antiepileptisch
wirksamen Medikamenten als OLU bei Neugeborenen (12).
Auch 10 Jahre nach Verabschiedung der
Verordnung über Kinderarzneimittel in der EU werden bei Kindern
generell und insbesondere bei Neugeborenen Arzneimittel häufig
zulassungsüberschreitend verordnet. Sowohl der OLU als auch die
teilweise sehr unterschiedlichen Verordnungen von Arzneimitteln in
den vier holländischen Intensivstationen verdeutlichen die
fehlende Evidenz für eine rationale Arzneitherapie, insbesondere
bei den kleinsten Neugeborenen. Auch ist der Begriff eines
"Neugeborenen" im Zusammenhang mit Arzneimitteltherapie
unpräzise, weil er lediglich das Alter von bis zu 30 Tagen
nach der Geburt meint und das pharmakokinetisch und pharmakodynamisch
relevante Ausmaß der Frühgeburtlichkeit nicht
berücksichtigt. Stuft man die Anwendung eines Arzneimittels, das
nur die allgemeine Zulassung für Kinder, jedoch keine explizite
Zulassung für Frühgeborene hat, auch als OLU ein, würde
der Anteil des OLU bei Neugeborenen in dieser Studie von 23% auf 41%
aller Verordnungen ansteigen. Bei den kardiovaskulär wirksamen
Medikamenten stiege der OLU-Anteil sogar von 30% auf 94%, bei
Antibiotika von 4% auf 24% und bei ZNS-wirksamen Medikamenten von 31%
auf 46%.
Fazit:
Der Anteil am Off-Label-Einsatz von Arzneimitteln ist in der
Neonatologie weiterhin hoch. Es müssen noch mehr Anstrengungen
unternommen werden, sowohl von Seiten der europäischen
Gesetzgebung (vgl. 2) zur Verordnung von Kinderarzneimitteln als
auch in der – meist von Pädiatern und nicht von
pharmazeutischen Unternehmern initiierten – klinischen
Forschung (13), um mehr Evidenz in der Arzneimitteltherapie für
die Kleinsten unserer Gesellschaft zu generieren und sie vor allem
auch sicherer zu machen.
Literatur
- https://ec.europa.eu/...

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