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Neue Leitlinie europäischer Fachgesellschaften zur arteriellen Hypertonie

In der Leitlinie US-amerikanischer Fachgesellschaften zur arteriellen Hypertonie aus dem Jahr 2017 wurden die Grenzwerte für die Diagnose einer Hypertonie gesenkt auf ≥ 130/80 mm Hg statt ≥ 140/90 mm Hg (1). Die Empfehlung stützt sich v.a. auf Ergebnisse der SPRINT-Studie, in der eine intensivere Blutdrucksenkung bei Hochrisikopatienten untersucht wurde (vgl. 2). Die Senkung der Grenzwerte führte dazu, dass nach den Leitlinienempfehlungen > 30 Mio. US-Amerikaner zusätzlich als Hypertoniker gelten, von denen 4,2 Mio. eine pharmakologische Therapie benötigen (3). Der Vorsitzende der SPRINT-Studiengruppe war auch als Vorsitzender der Leitlinienkommission tätig. Aus Sicht des amerikanischen Hausärzteverbandes wurde der SPRINT-Studie bei Erstellen der neuen Leitlinie zu viel Bedeutung zugemessen, und es wurden intellektuelle Interessenkonflikte nicht beachtet ─ Gründe, warum der Verband die Leitlinie ablehnt (4). Wegen der Diskussion um die Grenzwerte wurde die neue europäische Leitlinie zur Hypertonie mit Spannung erwartet. Sie wurde von der European Society of Cardiology (ESC) und der European Society of Hypertension (ESH) erstellt und im August 2018 veröffentlicht (5).

Die Leitlinie wurde von den beiden Fachgesellschaften finanziert. Die meisten Autoren geben an, dass sie von verschiedenen pharmazeutischen Unternehmern persönliche finanzielle Zuwendungen erhalten haben, darunter auch der Vorsitzende der Leitliniengruppe (6). Eine Konsequenz aus den deklarierten Interessenkonflikten, wie etwa eine Enthaltung bei einer Abstimmung, ist nicht dokumentiert.

Die Fachleute der beiden europäischen Fachgesellschaften sahen nach Bewertung der vorliegenden Evidenz, einschließlich der SPRINT-Studie, keinen Grund, die Grenzwerte zu ändern. Die neue europäische Leitlinie hält an der Definition der Hypertonie fest: ≥ 140/90 mm Hg. Auch die Klassifikation der Blutdruckwerte bleibt unverändert: Blutdruckbereich optimal: < 120/80 mm Hg; normal: 120-129/80-84 mm Hg; hochnormal: 130-139/85-89 mm Hg. Eine Arzneimitteltherapie wird nun aber generell bei Patienten mit einem Blutdruck ≥ 140/90 mm Hg empfohlen, wenn eine Änderung des Lebensstils nicht zum Erfolg geführt hat. Wird die Therapie gut vertragen, empfiehlt die europäische Leitlinie, ebenso wie die US-amerikanische, eine Senkung des Blutdrucks in den Normalbereich (< 130/80 mm Hg). Bei Patienten mit hochnormalen Blutdruckwerten (130-139/85-89 mm Hg) kann laut europäischer Leitlinienempfehlung bei gesicherter kardiovaskulärer Erkrankung eine Arzneimitteltherapie erwogen werden, insbesondere bei koronarer Herzkrankheit (KHK). Erstmals in einer Hypertonie-Leitlinie wird mit 120/70 mm Hg auch eine Untergrenze definiert, unter die der Blutdruck nicht gesenkt werden sollte. Laut Leitlinie scheint bei niedrigeren Blutdruckwerten das Risiko für Nebenwirkungen den Nutzen der Arzneimitteltherapie zu überwiegen.

Ebenfalls um Nebenwirkungen zu vermeiden, wird bei sehr alten Patienten (≥ 80 Jahre) der Beginn einer medikamentösen antihypertensiven Therapie erst bei systolischen Blutdruckwerten von ≥ 160 mm Hg empfohlen. Der Zielwert des Blutdrucks beträgt bei Patienten ≥ 65 Jahre 130-139/< 80 mm Hg. Die Empfehlungen beziehen sich auf relativ „fitte“ Patienten – für gebrechliche Patienten und Pflegeheimbewohner liegen nur unzureichende Daten vor, denn sie wurden aus den meisten randomisierten kontrollierten Studien (RCT) ausgeschlossen.

Zur medikamentösen Therapie werden unverändert folgende Wirkstoffe empfohlen: Hemmer des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS-H), darunter Angiotensin-Converting-Enzym-Hemmer (ACE-H) und Angiotensin-II-Rezeptor-Blocker (AT-II-RB), Kalziumantagonisten (KA), Diuretika und Betablocker (BB), letztere insbesondere bei kardialen Begleiterkrankungen sowie bei jungen hypertensiven Frauen vor einer geplanten Schwangerschaft. Neu ist die Empfehlung, dass die Arzneimitteltherapie nun primär als zweifache Kombinationstherapie aus RAAS-H und KA oder Diuretikum erfolgen soll. Eine Monotherapie wird nur noch für Patienten empfohlen, deren systolischer Blutdruck bei einem niedrigen kardiovaskulären Risiko < 150 mm Hg beträgt, außerdem bei Patienten mit hochnormalen Blutdruckwerten und einem sehr hohen kardiovaskulären Risiko sowie bei sehr alten und gebrechlichen älteren Patienten. Wird der Blutdruck durch die Therapie mit zwei Wirkstoffen nicht ausreichend gesenkt, empfehlen die Autoren eine dreifache Kombinationstherapie aus RAAS-H, KA und Diuretikum. Bei therapieresistenter Hypertonie soll zusätzlich Spironolacton in niedriger Dosierung (25-50 mg/d) verordnet werden, wenn es nicht kontraindiziert ist (vgl. 7). Bleibt der Blutdruck durch diese Therapie unzureichend gesenkt, werden Arzneimittel aus weiteren Wirkstoffgruppen empfohlen (andere Diuretika, Alphablocker, BB). BB können laut Leitlinie in jeder Behandlungsstufe hinzugefügt werden, wenn der Patient eine Indikation dafür hat, z.B. bei KHK, Herzinsuffizienz oder tachykardem Vorhofflimmern. Eine renale Denervierung soll nach der Leitlinie nur in Ausnahmefällen und im Rahmen klinischer Studien durchgeführt werden (vgl. 8).

Um die Adhärenz zu fördern, empfiehlt die Leitlinie den Einsatz von Kombinationspräparaten mit 2-3 Wirkstoffen in einer einzigen Tablette (vgl. 9). Problematisch daran ist, dass in Deutschland häufig eingesetzte Kombinationspräparate keine Zulassung für die Initialbehandlung der Hypertonie haben, sowie die zum Teil hohen Kosten (10).

Fazit: In der neuen Leitlinie europäischer Fachgesellschaften zur Diagnostik und Therapie der Hypertonie bleiben die Definition und Klassifikation der Hypertonie unverändert, gesenkt wurde aber der Zielwert des Blutdrucks. Neu ist ebenfalls die Empfehlung, dass die medikamentöse Therapie mit einer Kombination aus zwei Wirkstoffen begonnen werden soll. Um die Adhärenz zu verbessern, sollen Kombinationspräparate eingesetzt werden.

Literatur

  1. Whelton, P.K., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2018, 71, e127. Erratum: J. Am. Coll. Cardiol. 2018, 71, 2275. Link zur Quelle
  2. AMB 2017, 51, 89. Link zur Quelle
  3. Bakris, G., und Sorrentino, M.: N. Engl. J. Med. 2018, 378, 497. Link zur Quelle
  4. https://www.aafp.org/patient-care/ clinical-recommendations/non-endorsed.html Link zur Quelle
  5. Williams, B., et al.: Eur. Heart J. 2018, 39, 3021. Link zur Quelle
  6. https://www.escardio.org/static_file/ Escardio/Guidelines/DOI/ DOI_Summary_2018_Hypertension.pdf Link zur Quelle
  7. AMB 2009, 43, 38 Link zur Quelle . AMB 2015, 49, 73. Link zur Quelle
  8. AMB 2018, 52, 59. Link zur Quelle
  9. AMB 2014, 48, 40DB01. Link zur Quelle
  10. Düsing, R., und Middeke, M.: Dtsch. Arztebl. 2018, 115, A-1267. Link zur Quelle