In den aktuell publizierten
US-amerikanischen Leitlinien zur Behandlung von Vorhofflimmern (VHF)
werden die direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) gegenüber den
Vitamin-K-Antagonisten (VKA) bevorzugt empfohlen, wenn bei einem
Patienten mit nicht-valvulärem VHF die Indikation zur oralen
Dauerantikoagulation besteht (vgl. 1, 2). Es ist davon
auszugehen, dass der bereits große Anteil von Patienten unter
DOAK-Therapie weiter zunehmen wird. Ein gravierender Nachteil der
DOAK ist das Fehlen eines spezifischen Antidots gegen direkte
Faktor-Xa-Antagonisten (Rivaroxaban = Xarelto®,
Apixaban = Eliquis®,
Edoxaban = Lixiana®;
vgl. 3). In
Notfällen wird die Substitution von Gerinnungsfaktoren
(Prothrombinkomplex) empfohlen. Lediglich für den direkten
Thrombininhibitor Dabigatran liegt mit Idarucizumab
ein seit 2015 in der EU und den USA zugelassenes Antidot vor (3). In
den USA wurde im Mai 2018 mit Andexanet (Ondexxya®,
Portola Pharmaceuticals) ein
spezifisches Antidot gegen die Faktor-Xa-Antagonisten Apixaban und
Rivaroxaban zugelassen mit der Indikation „lebensbedrohliche
oder unkontrollierbare Blutungen“. Die EU-Zulassung steht
unmittelbar bevor (s.u.). Es handelt sich um einen rekombinanten
inaktiven Faktor Xa, der kompetitiv an die Faktor-Xa-Inhibitoren
bindet und diese damit (partiell) inaktivieren soll. Die
eingeschränkte und an Auflagen geknüpfte Zulassung erfolgte
im Rahmen des „Accelerated Approval Program“ der FDA
aufgrund zweier Studien zur Anti-Faktor-Xa-Senkung an gesunden
Probanden (4) sowie vorab publizierter Daten der ANNEXA-4-Studie. In
den oben erwähnten US-VHF-Leitlinien erhielt Andexanet eine
Klasse-IIa-Empfehlung (Anm.: Idarucizumab: Klasse-I-Empfehlung;
beides Evidenzlevel B). Die vollständigen Ergebnisse der
ANNEXA-4-Studie, in der Andexanet erstmals an Patienten untersucht
wurde, wurden jetzt im N. Engl. Med. publiziert (5). Die Studie wurde
vom pharmazeutischen Unternehmer durchgeführt.
Methodik:
Es handelt sich um eine nicht randomisierte, nicht kontrollierte,
unverblindete („open label“) Kohortenstudie an Patienten
mit akuten schweren Blutungen (hämodynamisch relevant oder
Hb-Abfall ≥ 2 g/dl oder kritische Lokalisation, z.B.
intrakraniell, retroperitoneal) innerhalb von 18 h nach Einnahme
der Faktor-Xa-Inhibitoren Rivaroxaban, Apixaban, Edoxaban bzw.
Injektion des niedermolekularen Heparins Enoxaparin (Clexane®)
≥ 1 mg/kg KG. Alle Patienten erhielten Andexanet
als Bolus (400 mg oder 800 mg), gefolgt von einer Infusion
(4 mg/min oder 8 mg/min) über 2 h. Die Dosierung
war abhängig von Art, Zeitpunkt der letzten Einnahme und Dosis
des Gerinnungshemmers mit Änderungen im Verlauf der Studie. Als
primärer Endpunkt für die Wirksamkeit war initial allein
das Erreichen einer prädefinierten Stillung der Blutung 24 h
(später auf 12 h geändert) nach Ende der Infusion
vorgesehen. Die Hämostase wurde durch eine unabhängige
Kommission nach komplexen prädefinierten Kriterien in „sehr
gut“, „gut“ oder „schlecht/keine“
klassifiziert (im „Supplementary Appendix“ nachzulesen;
klinische und/oder Bildgebungskriterien waren abhängig von der
Blutungslokalisation). Die Evaluierung, ob die Blutung gestillt war,
erwies sich offenbar im Studienverlauf als problematisch, denn in
einem späteren „Protocol Amendment“ wurde die
gemessene Aktivität des Faktors Xa von einem initial
sekundären zu einem zweiten „primären“ Endpunkt
aufgewertet. Die beiden Endpunkte wurden sequenziell evaluiert, d.h.
die Stillung der Blutung wurde nur dann evaluiert, wenn zuvor eine
Änderung der Faktor-Xa-Aktivität nachgewiesen war. Außerdem
erfolgte eine Analyse der Effektivität nur bei Patienten mit
nachgewiesener schwerer Blutung und einer Anti-Faktor-Xa-Aktivität
≥ 75 ng/ml (bzw. ≥ 0,25 IU/ml nach
Enoxaparin). Primäre Sicherheitsendpunkte waren Tod,
thrombotische Ereignisse sowie die Bildung von Antikörpern gegen
Andexanet, Faktor X oder Faktor Xa.
Ergebnisse:
Es wurden zwischen April 2015 und Juni 2018 in 63 Zentren in
Nordamerika und Europa 352 Patienten (53% Männer; mittleres
Alter 77 Jahre) eingeschlossen, davon 227 (64%) mit
intrakranieller und 90 (26%) mit gastrointestinaler Blutung. Während
der Rekrutierungsphase wurden die Einschlusskriterien durch „Protocol
Amendments“ mehrfach modifiziert; so durften z.B. von Juli 2016
bis August 2017 nur Patienten mit intrakraniellen Blutungen
eingeschlossen werden, um deren Anteil an der Studienpopulation zu
erhöhen. Die häufigste Indikation für die
Antikoagulation war VHF (80%). Andexanet wurde im Mittel 4,8 h
nach Erstpräsentation in der Notfallabteilung verabreicht. Nur
254 Patienten (72%) erfüllten die Kriterien für die
Analyse der Wirksamkeit (s.o.). Bei ihnen wurde nach Gabe von
Andexanet eine signifikante Abnahme der Anti-Faktor-Xa-Aktivität
gemessen (s. Tab. 1). Bei 5 Patienten erfolgte (ohne
Angabe von Gründen) keine Evaluierung der Hämostase; von
den verbliebenen 249 Patienten erreichten 202 (82%) eine “sehr
gute“ (84%) oder „gute“ (16%) Stillung der Blutung
nach 12 h. Innerhalb von 30 Tagen starben 49 Patienten
(14%), davon zwei Drittel aus kardiovaskulären Ursachen.
Thrombotische Ereignisse traten bei 34 Patienten auf (10%;
Schlaganfall 14, Venenthrombose 13, Myokardinfarkt 7 und
Lungenembolie 5 Patienten). Die Reduktion der
Anti-Faktor-Xa-Aktivität war nicht prädiktiv für den
hämostatischen Effekt in der gesamten Studienpopulation und nur
mäßig prädiktiv in der Subgruppe mit intrakranieller
Blutung. Bei
keinem Patienten wurde eine Antikörperbildung gegen Andexanet
nachgewiesen.
Schlussfolgerung und Diskussion:
Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass
Notfallmedizinern in der Behandlung von Patienten mit
lebensbedrohlichen Blutungen mit Andexanet ein wirksames und sicheres
Antidot gegen direkte Faktor-Xa-Inhibitoren zur Verfügung steht.
Die fehlende Korrelation des reinen Surrogatparameters
„Anti-Faktor-Xa-Aktivität“ mit dem klinischen
Endpunkt „Stillung der Blutung“ erklären die Autoren
mit möglichen Störfaktoren (Confounders), wie z.B. nicht
definierten Blutungsquellen (arteriell vs. venös) oder gestörter
Thrombozytenfunktion. Gleichzeitig räumen sie aber ein, dass die
Messung der Anti-Faktor-Xa-Aktivität nicht geeignet erscheint,
einen klinischen Erfolg vorauszusagen.
Der größte Mangel der
ANNEXA-4-Studie ist das Fehlen einer Kontrollgruppe. Nach Angaben der
Autoren seien zum Zeitpunkt der Studienplanung „die
logistischen und ethischen Herausforderungen“ für eine
Plazebokontrolle zu groß und die Substitution von
Gerinnungsfaktoren mit Prothrombinkomplex in dieser Indikation nicht
zugelassen gewesen. Sie vergleichen allerdings in ihrer Diskussion
ausführlich die Daten zur Wirksamkeit und Sicherheit von
Andexanet in ANNEXA-4 mit denen von Prothrombinkomplex in
publizierten Beobachtungsstudien mit ähnlichen (aber deutlich
kleineren) Patientenpopulationen (6, 7). Soweit zu beurteilen,
sind die Hämostaseraten in etwa gleich (um 70%); ein
Vergleich von Letalität und Thromboseraten erscheint in
Anbetracht der wenigen Patienten und heterogener Begleitumstände
– z.B. Wiederbeginn der D/OAK – nicht sinnvoll. Letztlich
ist ohne Kontrollgruppe weder eine aussagekräftige Beurteilung
der Wirksamkeit noch der Sicherheit möglich.
Die Substitution mit
Prothrombinkomplex ist zwar „off label“, wird
mittlerweile aber in vielen Expertenstatements als Therapiemaßnahme
bei bedrohlichen Blutungen unter DOAK empfohlen (z.B. 8, 9),
ebenfalls ohne zugrundeliegende randomisierte kontrollierte Studien,
und ist in der klinischen Praxis weit verbreitet. Diese Behandlung
wäre als Kontrolltherapie naheliegend, ethisch durchaus
vertretbar und daher für alle Studien zu DOAK-Antidoten zu
fordern. Auch bleibt unklar, ob überhaupt ein Vorteil der
DOAK-Antidote gegenüber alleinigen Standardmaßnahmen, z.B.
DOAK-Pause, konservative/chirurgische Blutstillung, Transfusion,
gegeben ist. Dies lässt sich aber wohl tatsächlich aus
ethischen Gründen nicht mittels einer prospektiven Studie
klären.
Der Andexanet-Hersteller kündigt
die Durchführung einer randomisierten Phase-IV-Studie nach der
Zulassung an. Sie soll Patienten mit intrakraniellen Blutungen
einschließen, wie von der FDA im Rahmen des „Accelerated
Approval Program“ als Auflage vorgeschrieben wurde. Nach den
bekanntgegebenen Details (10) dürfte aber auch diese Studie
keine standardisierte Vergleichstherapie beinhalten („Single
group assignment“). Die Annahme liegt nahe, dass der Hersteller
den Status quo möglichst lange aufrechterhalten möchte mit
dem Ziel, den sehr teuren Wirkstoff (Einzelgabe Niedrigdosis:
29.000 US$, Hochdosis 58.000 US$; 11) bis zum Vorliegen
(potenziell ungünstiger) klinischer Ergebnisse maximal zu
vermarkten. Davon profitieren letztlich auch die DOAK-Hersteller, da
mit der Verfügbarkeit spezifischer Antidots ein wesentliches
Argument gegen die direkten Faktor-Xa-Inhibitoren wegfällt und
diese als „noch sicherer“ verkauft werden können.
Als häufige Nebenwirkung von
Andexanet (≥ 5%) werden in der US-Fachinformation Pneumonien
und Harnwegsinfekte angeführt. Außerdem verfügte die
FDA als eine Bedingung für die beschleunigte Zulassung eine
„Boxed Warning“ aufgrund der in ANNEXA-4 berichteten
kardiovaskulären Ereignisse.
EU-Marktzulassung:
Der Ausschuss für Humanarzneimittel (Committee for Medicinal
Products for Human Use = CHMP) der Europäischen
Arzneimittel-Agentur (EMA) hat im Februar 2019 der Europäischen
Kommission empfohlen, eine bedingte Zulassung („conditional
marketing authorization“) für Andexanet auszusprechen
(12). Mit dieser ist in den kommenden Monaten zu rechnen. Sie ist –
analog zur beschleunigten Zulassung der FDA – an die
Durchführung von weiteren Studien nach der Zulassung geknüpft
und wird jährlich überprüft.
Fazit:
Mit Andexanet wurde in den USA ein spezifisches Antidot gegen
Faktor-Xa-Inhibitoren zugelassen. Eine baldige EU-Zulassung wird
erwartet. Ähnlich wie beim einzigen bisher in der EU
zugelassenen spezifischen DOAK-Antidot Idarucizumab
gibt es zu Andexanet lediglich Daten aus nicht randomisierten
Kohortenstudien ohne Kontrollgruppen (und mit beträchtlichen
Veränderungen der Einschlusskriterien und Studienendpunkte im
Verlauf von ANNEXA-4). Eine umfassende klinische Bewertung dieses
neuen und teuren Antidots (z.B. vs. Prothrombinkomplex, aber auch vs.
Standardtherapie) ist nicht möglich. Im Zusammenhang mit dem
Akut-Management von Blutungskomplikationen unter DOAK bleiben
weiterhin viele Fragen offen.
Literatur
- AMB
2019, 53,
17.

- January,
C.T., et al.: J. Am. Coll. Cardiol. 2019.

- AMB
2017,
51,
92.

- Siegal,
D.M., et al. (ANNEXA-A
und ANNEXA-R = A
phase 3 randomized, double-blind, placebo-controlled study in older
subjects to assess safety and the reversal of apixaban
anticoagulation with intravenously administered andexanet alfa):
N. Engl. J. Med. 2015, 373,
2413.

- Conolly,
S.J., et al. (ANNEXA-4
= Prospective,
open-label study of andexanet alfa in patients receiving a factor Xa
inhibitor who have acute major bleeding):
N. Engl. J. Med. 2019, Feb 7.

- Majeed,
A., et al.: Blood 2017, 130,
1706.

- Schulman,
S., et al.: Thromb. Hemost. 2018, 118,
842.

- Maegele,
M., et al.: Dtsch. Arztebl. Int. 2016, 113,
575.

- https://www.uptodate.com/contents/
management-of-bleeding-in- patients-receiving-direct-oral-
anticoagulants

- ClinicalTrials.gov
Identifier: NCT03661528
- https://www.uptodate.com/contents/
andexanet-alfa-drug-information

- https://www.ema.europa.eu/en/
news/first-antidote-reversal-anticoagulation -factor-xa-inhibitors-
apixaban-rivaroxaban

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