Über
100 Arzneimittel aus verschiedenen Indikationsbereichen haben
mehr oder weniger starke anticholinerge Wirkungen, darunter einige
Antidepressiva, Antipsychotika, Antikonvulsiva,
Anti-Parkinson-Mittel, Antihistaminika, Antiemetika oder
Spasmolytika. Anticholinerg wirksame Arzneimittel (AC) können
besonders bei älteren Menschen Nebenwirkungen wie Sehstörungen,
Obstipation, Verwirrtheitszustände und Gedächtnisstörungen
verursachen (vgl. Beers-Liste; 1) und stehen im Verdacht, bei
Langzeitanwendung das Entstehen einer Demenz zu begünstigen.
Eine Gruppe von
Allgemeinmedizinern und Psychiatern aus Nottingham/UK ging diesem
Verdacht in einer Fall-Kontroll-Studie mit einer großen
britischen Population nach (2). Hierzu wurde in einer medizinischen
Datenbank (QResearch database, mit Patientendaten aus über 1.500
Arztpraxen in ganz England) die Medikation von Demenzkranken in den
Jahren vor der Diagnosestellung rückverfolgt und mit alters- und
geschlechtsgleichen Kontrollen verglichen. Gesucht wurde nach einer
Assoziation zwischen kumulativer Exposition mit AC und dem
Neuauftreten einer Demenz.
Methodik:
Berücksichtigt wurden Patienten ≥ 55 Jahre ohne
Demenz, die zwischen 2004 und 2016 in den teilnehmenden Praxen
registriert waren. Patienten, die in diesen 12 Jahren an einer
Demenz erkrankten, wurden anhand eines neu auftauchenden
Krankheits-Codes direkt identifiziert oder indirekt, wenn ihnen
erstmalig ein Anti-Demenz-Medikament verschrieben wurde (z.B.
Donepezil oder Memantin). Patienten mit spezifischen Demenzen (u.a.
M. Huntington, Parkinson, Creutzfeldt-Jakob oder HIV-assoziiert)
wurden ausgeschlossen. Jedem Patienten mit Demenz wurden fünf
Kontrollen gleichen Alters und Geschlechts zugeordnet. Da es keine
allgemein akzeptierte Klassifikation des anticholinergen Potenzials
von Arzneimitteln gibt, wurden verschiedene Klassifikationen
herangezogen (u.a. Klassifikation nach Gray, der American Geriatrics
Society und den Beers-Kriterien, vgl. 4). Letztlich wurden
56 Medikamente aus 11 Indikationsbereichen als stark
anticholinerg wirksam eingestuft. Zur Bemessung der kumulativen
AC-Gesamtexposition wurde für jeden Patienten eine
standardisierte kumulative Gesamttagesdosis (TSDD: total standardized
daily doses) ermittelt. Dieser Wert ergab sich aus der Zahl der
verschriebenen Tabletten, deren Dosis und der minimal effektiven
Tagesdosis, die für die Anwendung bei älteren Erwachsenen
in den Fachinformationen empfohlen wird. Die Gesamtexposition wurde
in 5 Expositionskategorien unterteilt: 1. keine Verordnung
(Non-use); 2. kumulative Verordnung über maximal 3 Monate
(1-90 TSDD); 3. über maximal 1 Jahr
(91-365 TSDD); 4. über maximal 3 Jahre
(366-1.095 TSDD) und 5. über > 3 Jahre
(> 1.095 TSDD). Wenn also beispielsweise ein Patient
wegen hyperaktiver Blase über 3 Jahre täglich die
niedrigste empfohlene Dosis Trospiumchlorid einnimmt (30 mg),
dann käme er auf 1.095 TSDD. Nimmt er über 1 Jahr
die doppelte Dosis (2 x 30 mg/d), dann käme er
auf 730 TSDD. Potenzielle Störgrößen
(Confounder), die als eigenständige Risikofaktoren für
Demenz gelten, wurden bei den Analysen berücksichtigt, darunter
Body-Mass-Index, Raucherstatus, Alkoholkonsum, sozialer Status,
bestimmte Komorbiditäten (u.a. Vorhofflimmern, Bluthochdruck,
Diabetes, Schlaganfall, Depression) und die Verwendung bestimmter
Medikamente (u.a. Sedativa und Anxiolytika). Das Risiko einer
AC-Exposition für die Entstehung einer Demenz wurde als
adjustierte Odds Ratio (adjOR) angegeben.
Ergebnisse:
Die Basispopulation umfasste > 3,6 Mio. Personen im
Alter von 55-100 Jahren. Bei 128.517 Personen wurde in der
Beobachtungszeit eine Demenz diagnostiziert. Nach Anwendung aller
Ausschlusskriterien wurden 58.769 „Fälle“
identifiziert und diesen 225.574 Kontrollen zugeordnet. Das
Durchschnittsalter bei Diagnosestellung betrug 82,4 ± 7 Jahre;
63,1% waren Frauen. Bei 60,1% wurde eine Alzheimer-Demenz, bei 36,3%
eine vaskuläre und bei 3,6% eine andere Art von Demenz
diagnostiziert.
In den Jahren vor der
Diagnosestellung wurde bei 56,6% der „Fälle“ und bei
51,0% der Kontrollen mindestens einmal ein AC verschrieben, am
häufigsten Antidepressiva (27,1% bzw. 23,3%), Antivertiginosa
bzw. Antiemetika (23,8% bzw. 21,7%) und Blasen-Spasmolytika (11,7%
bzw. 8,3%).
Die adjOR für Demenz
stieg im Vergleich zum „Non-use“ mit der kumulativen
AC-Exposition linear an: von 1,06 (bei 1-90 TSDD), über
1,17 (91-365 TSDD), 1,36 (366-1095 TSDD) auf 1,49
(> 1095 TSDD). Bei bestimmten AC scheint das
Demenz-Risiko höher zu sein als bei anderen: Die adjOR in der
höchsten Expositionskategorie betrug 1,29
(95%-Konfidenzintervall = CI: 1,24-1,34) für
Antidepressiva, 1,39 (CI: 1,22-1,57) für Antikonvulsiva,
1,52 (CI: 1,16-2,00) für Anti-Parkinson-Medikamente, 1,65
(CI: 1,56-1,75) für Blasen-Spasmolytika und 1,70
(CI: 1,53-1,90) für Antipsychotika. Unter diesen
Wirkstoffen befinden sich mehrere, die älteren Menschen häufig
verordnet werden (s. Tab. 1). Für Antihistaminika,
Muskelrelaxanzien, gastrointestinale Spasmolytika, Antiarrhythmika
und antimuskarinische Bronchodilatatoren war kein Risikoanstieg
erkennbar. Bei Patienten, die vor dem 80. Lebensjahr eine Demenz
entwickelten, war die Assoziation mit der AC-Exposition stärker
als bei noch älteren Patienten (adjOR: 1,81 vs. 1,35 in der
höchsten Expositionskategorie). Die Assoziation war auch stärker
für die Entstehung einer vaskulären als für eine
Alzheimer-Demenz (adjOR: 1,68 vs. 1,37).
Die Autoren
schlussfolgern, dass ein Zusammenhang zwischen AC-Gebrauch und
Entstehen einer Demenz sehr wahrscheinlich ist und dass 10% der
Demenzerkrankungen auf die Einnahme von AC zurückzuführen
sein könnten. Dieser Anteil wäre beträchtlich und im
Bereich von Schätzungen für den Einfluss anderer
modifizierbarer Risikofaktoren, wie Bluthochdruck im mittleren
Lebensalter (5%), Diabetes mellitus (3%), langjähriges Rauchen
(14%) oder körperliche Inaktivität (6,5%). Sie empfehlen,
AC bei mittelalten und älteren Menschen möglichst zu
vermeiden oder nur zeitlich begrenzt zu verschreiben oder auf
alternative Medikamente ohne anticholinerge Wirkung zu wechseln.
Die drei Kommentatoren
der Studie (3) erinnern daran, dass eine Assoziation zwischen AC und
Demenz wiederholt nachgewiesen wurde (4), dass dies jedoch keine
Kausalität bedeutet. Sie fordern zum Nachweis der Kausalität
eine Absetz-Studie. Diese würde nicht nur die Kausalität
belegen, sondern auch die Wirksamkeit des Instruments „Deprescribing“
prüfen (vgl. 5). Solch eine Absetz-Intervention sollte
jedoch 3 Schlüsselelemente berücksichtigen:
Vorrangig
sollten Patienten eingeschlossen werden, die besonders von einem
Deprescribing profitieren, also z.B. < 80 Jahre mit
normaler kognitiver Funktion. Wenn bereits kognitive
Beeinträchtigungen vorliegen, ist der zu erwartende Effekt
geringer bzw. käme das Absetzen möglicherweise zu spät.
Es
sollten die hinsichtlich einer Demenzentstehung besonders kritischen
Medikamente ab- bzw. umgesetzt werden. Genannt werden muskarinerge
Spasmolytika und Antidepressiva sowie Anti-Parkinson-Mittel mit
starker anticholinerger Wirkung.
Von
besonderer Bedeutung sei die Art und Weise der Absetz-Intervention.
Derartige Interventionen seien oft komplex, zeit- und
personalintensiv und oft genug ineffektiv bzw. nicht nachhaltig
(vgl. 6). Hier müssten neue Wege beschritten werden.
Erkenntnisse aus der Ökonomie (Verhaltensänderungen bei
Verbrauchern) oder Nudge-Techniken (kleine Anschubser) werden
genannt. Es sollten nicht nur das Fachpersonal, sondern auch die
Patienten angeschubst werden. Schließlich seien auch die
Behörden gefragt. Sie könnten die Verordnung solcher
Arzneimittel mit Auflagen versehen oder verlangen, dass vor einem
Langzeitgebrauch kritischer AC gewarnt wird.
Fazit:
Eine britische Fall-Kontroll-Studie zeigt erneut, dass der
längerfristige Gebrauch von bestimmten Arzneimitteln mit
anticholinerger Wirkung mit der Entstehung einer Demenz assoziiert
ist. Einige Antidepressiva, Antikonvulsiva,
Anti-Parkinson-Medikamente, Blasen-Spasmolytika und Antipsychotika
mit hohem anticholinergem Potenzial gehen mit einem um 29-70% höheren
Risiko für das Entstehen einer Demenz einher, wenn sie > 3 Jahre
und in der geringsten wirksamen Dosis eingenommen werden. Zum Beweis
der Kausalität und der Wirksamkeit des Instruments
„Deprescribing“ wird eine große kontrollierte
Absetz-Studie gefordert.
Literatur
- 2019
American Geriatrics Society Beers Criteria®
Update Expert Panel: J. Am. Geriatr.
Soc 2019, Jan. 29.
.
Vgl. AMB
2019, 53,
31.

-
Coupland,
C.A.C., et al.: JAMA Intern. Med.
2019, Jun 24. Epub ahead of print.
-
Campbell,
N.L., et al.: JAMA Intern. Med.
2019, Jun 24. Epub ahead of print.
-
Richardson,
K., et al.: BMJ 2018, 361,
k1315.
-
AMB
2018, 52,
94
.
AMB
2019, 53,
31.

-
AMB
2018,
52,
23
.
AMB
2018, 52,
88DB01 .
AMB
2014, 48,
80DB01.

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