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Weniger ist (oft) mehr – aktuelle Publikationen

Die übermäßige Anwendung und Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen kann Patienten schaden und verschwendet Ressourcen (vgl. 1). Eine US-amerikanische Arbeitsgruppe veröffentlicht seit 2016 jährlich eine systematische Übersichtsarbeit zu aktuellen Publikationen, die belegen, dass „weniger“ oft „mehr“ sein kann. Nun ist die Aktualisierung für das Jahr 2019 erschienen (2).

Für die Untersuchung nutzten die Autoren zwei Datenbanken und führten eine systematische Literaturrecherche durch der 2018 veröffentlichten Publikationen in 10 führenden medizinischen Fachzeitschriften. Es fanden sich 839 Publikationen, die sich mit der übermäßigen Anwendung medizinischer Maßnahmen befassten. Die Artikel wurden hinsichtlich ihrer methodischen Qualität, der klinischen Relevanz und der Bedeutung für Patienten bewertet. Anhand dieser Kriterien wählten die Autoren im Konsens die Arbeiten aus, die ihnen am wichtigsten erschienen: Die Ergebnisse von 10 Publikationen werden in der Übersichtsarbeit ausführlicher dargestellt, weitere 10 werden in einer Tabelle aufgeführt.

Zur übermäßigen Durchführung diagnostischer Tests und zur Überdiagnose fanden die Autoren Arbeiten mit folgenden Ergebnissen:

  • Die Messung von Procalcitonin in US-amerikanischen Notaufnahmen führt nicht zu einer Abnahme von Antibiotikaverordnungen bei Patienten mit Infektionen der unteren Atemwege (randomisierte, kontrollierte Studie (RCT) mit 1.656 Patienten; Dauer der Antibiotikaverordnung in der Procalcitonin-Gruppe im Durchschnitt 4,2 vs. 4,3 Tage in der Gruppe mit üblicher Behandlung).

  • Bei gängigen Untersuchungen durch Computertomographie oder Magnetresonanztomographie finden sich in 22-38% Zufallsbefunde, die weitere Untersuchungen nach sich ziehen und Patienten belasten können. Sie sollten deshalb darüber aufgeklärt werden (systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse von 20 Übersichtsarbeiten mit 240 Primärstudien).

  • Bei 9% der Frauen mit kolorektalem Karzinom oder Lungenkrebs im Stadium IV werden im Rahmen des Brustkrebs-Screenings weiterhin Mammographien durchgeführt, obwohl das bei Frauen mit einer Lebenserwartung von < 10 Jahren wegen fehlendem Nutzen nicht empfohlen wird (Analyse von Krankenkassen- und Registerdaten zu 34.127 Frauen mit fortgeschrittenem Lungen- oder kolorektalem Karzinom).

  • Der Nutzen einer Computertomographie im Lungenkrebs-Screening steigt mit zunehmendem Risiko des Patienten für die Erkrankung, während der Schaden, also die Raten falsch positiver Befunde mit anschließenden Untersuchungen, in allen Risikogruppen ähnlich ist (Modellrechnungen auf der Basis von Krankenkassen- und Registerdaten; Number needed to screen zur Verhinderung eines Todes durch Lungenkrebs: niedrigste Risikogruppe 6.903 vs. höchste Risikogruppe 687). Das Ergebnis unterstreicht, dass Screening-Untersuchungen, einschließlich des Lungenkrebs-Screenings, die Vortest-Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung bei den Patienten berücksichtigen sollten (vgl. 3).

Publikationen im Zusammenhang mit Überbehandlung und medizinischen Maßnahmen, die in Frage gestellt werden sollten, zeigen Folgendes:

  • In sogenannten „urgent care“-Zentren – einer US-amerikanischen Versorgungsform mit zunehmender Verbreitung, in der Patienten mit leichteren Erkrankungen ohne Termin behandelt werden – werden zu häufig Antibiotika für Erkrankungen verordnet, bei denen sie nicht indiziert sind, beispielsweise virale Infektionen der oberen Atemwege. Bei 45,7% der 201.682 Besuche mit solchen Diagnosen in „urgent care“-Zentren erhielten Patienten Antibiotika, verglichen mit 24,6% der 63.189 Besuche in Notaufnahmen und 17% der 1.563.573 Mio. Besuche in hausärztlichen Praxen (retrospektive Analyse von Versicherungsdaten aus dem Jahr 2014).

  • Die Behandlung der subklinischen Hypothyreose hat keine Auswirkungen auf die Lebensqualität oder klinische Beschwerden (systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse von 21 RCT; vgl. 4)

  • Der Einsatz von Opioiden bei chronischen, nichttumorbedingten Schmerzen führt nicht zu einem klinisch signifikanten Unterschied hinsichtlich der Schmerzreduktion im Vergleich zu Plazebo, nichtsteroidalen Antirheumatika oder trizyklischen Antidepressiva (systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse von 96 RCT; vgl. 5).

  • Die Behandlung von Patienten auf Intensivstationen mit Pantoprazol zur Stressulkus-Prophylaxe führt zu keiner statistisch signifikanten Abnahme der Sterblichkeit (RCT mit 3.298 Patienten: Sterblichkeit unter Pantoprazol 31,1% vs. Plazebo 30,4%; vgl. 6).

  • Die Anwendung von zusätzlichem Sauerstoff bei akut erkrankten Patienten ohne Hypoxämie führt zu einer erhöhten Sterblichkeit (systematische Übersichtsarbeit und Metaanalyse von 25 RCT mit insgesamt 16.037 Patienten; Sterblichkeit mit vs. ohne Sauerstoff: Relatives Risiko: 1,21; 95%-Konfidenzintervall: 1,03-1,43).

Um die übermäßige Anwendung und Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen zu reduzieren, stellen die Autoren eine Arbeit vor, nach der eine Reform des Haftungsrechts zu weniger invasiven diagnostischen Maßnahmen führen könnte: Ärzte in 9 US-amerikanischen Bundesstaaten, die zwischen 2002 und 2005 eine Begrenzung der Haftpflicht eingeführt hatten, führten bei Patienten mit dem Verdacht auf Koronare Herzkrankheit fast ein Viertel weniger Herzkatheteruntersuchungen und Revaskularisationen durch als Ärzte in 20 Bundesstaaten ohne Begrenzung.

Die Aussagekraft dieser Übersichtsarbeit (2) ist u.a. dadurch begrenzt, dass die Literatursuche auf führende medizinische Fachzeitschriften beschränkt war und die Auswahl der vorgestellten Publikationen auf der subjektiven Entscheidung der Autoren beruhte.

Fazit: In vielen verschiedenen Fachgebieten gibt es weiterhin eine übermäßige Anwendung und Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen, wie aktuelle Publikationen zeigen. In Deutschland und Österreich adressieren die Initiative „Gemeinsam Klug Entscheiden“ neben dem Problem der Überversorgung auch Unter- und Fehlversorgung (7, 8). Links zu bislang vorliegenden evidenzbasierten Empfehlungen mehrerer Fachgesellschaften sind bei der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften zusammengestellt, darunter die lesenswerte S2e-Leitlinie zum „Schutz vor Über- und Unterversorgung“ der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM; 9). Bedauerlicherweise ist die Beteiligung an der Initiative aber noch sehr überschaubar. Das Denken, dass weniger oft mehr ist, muss sich anscheinend noch mehr durchsetzen.

Literatur

  1. AMB 2018, 52, 88DB01. Link zur Quelle
  2. Morgan, D.J., et al.: JAMA Intern. Med. 2019, 179, 240. Link zur Quelle
  3. AMB 2012, 46, 07b. Link zur Quelle
  4. AMB 2017, 51, 55a. Link zur Quelle
  5. AMB 2017, 51, 95 Link zur Quelle . AMB 2014, 48, 85 Link zur Quelle . AMB 2011, 45, 65. Link zur Quelle
  6. AMB 2019, 53, 85 Link zur Quelle . AMB 2018, 52, 96. Link zur Quelle
  7. Klemperer, D., et al.: Krankenhausreport 2016. Schattauer (Stuttgart), S. 219. Link zur Quelle
  8. https://gemeinsam-gut-entscheiden.at/ Link zur Quelle
  9. https://www.degam.de/files/Inhalte/ Leitlinien-Inhalte/Dokumente/ DEGAM-S2-Leitlinien/ 053-045%20Schutz%20vor%20 Ueber-und%20Unterversorgung/053-045l_S2e_ SchutzvorUeberundUnterversorgung.pdf Link zur Quelle