Unter den zahlreichen Vermutungen,
Gerüchten und Falschmeldungen, die seit Übergreifen der
COVID-19-Pandemie auf Europa insbesondere auch in den sogenannten
„sozialen“ Netzwerken verbreitet werden, gibt es eine
ganze Reihe, die sich auf Arzneimittel beziehen. So wurden ACE-Hemmer
(ACE-H), Angiotensin-II-Rezeptor-Blocker (AT-II-RB) und Ibuprofen
verdächtigt, eine Infektion mit SARS-CoV-2 zu begünstigen.
Von chinesischen und insbesondere
italienischen COVID-19-Patienten ist bekannt, dass bei ihnen in einem
hohen Prozentsatz kardiovaskuläre Risikofaktoren und
Erkrankungen vorliegen, wie arterielle Hypertonie (um 75%), Diabetes
mellitus (DM; um 30%), koronare Herzkrankheit (um 30%),
Vorhofflimmern (um 20%), chronische Niereninsuffizienz (um 20%),
Schlaganfall (um 10%; die Zahlen gelten für SARS-CoV-2-positive
verstorbene italienische Patienten; aus 1). Diese Komorbiditäten
sind mit einem ungünstigeren COVID-19-Krankheitsverlauf
assoziiert. Ob ein direkter kausaler Zusammenhang auf
pathogenetischer Ebene vorliegt oder eine indirekte Verbindung mit
anderen Parametern wie Alter, Komorbiditäten oder
Arzneimitteltherapien ist unklar, da keine der Studien nach solchen
Störfaktoren adjustiert hat.
Viele Patienten mit Hypertonie, DM und
Kardiomyopathie – und damit auch viele COVID-19-Patienten –
stehen unter einer Therapie mit ACE-H oder AT-II-RB. Bereits seit der
Epidemie von SARS-CoV 2002/2003 ist bekannt, dass humanpathogene
Coronaviren über das Transmembranprotein
Angiotensin-Converting-Enzyme 2 (ACE2) an die Wirtszellen
koppeln. Dies gilt auch für SARS-CoV-2. ACE2 wird im Epithel der
tiefen Luftwege (intrapulmonales Bronchialsystem) und des
Gastrointestinaltrakts, im Gefäßendothel sowie im Herzen
und in der Niere exprimiert. Es
ist verwandt mit ACE, dem Zielmolekül der ACE-H, spielt aber im
komplexen Renin-Angiotensin-Aldosteron-System eine
gegenregulatorische und kardioprotektive Rolle. Durch die
CoV-Infektion kommt es zu einem Verlust von membranständigem
ACE2.
In Lancet Respiratory Medicine wurde
kürzlich dazu eine kurze Darstellung von Schweizer Forschern
publiziert (2). Es sei für Patienten mit DM und Hypertonie
nachgewiesen, dass es unter Therapie mit ACE-H oder AT-II-RB zu einer
vermehrten Expression von ACE2 kommt (Up-Regulation). Auch von
Ibuprofen und von (den wenig gebräuchlichen)
Glitazon-Antidiabetika sei dies bekannt. Es gibt daher die Hypothese,
dass bei diesen Patientengruppen infolge der vermehrten
ACE2-Expression eine erhöhte Empfänglichkeit für eine
SARS-CoV-Infektion bestehen könnte. Aus asiatischen Populationen
sind außerdem ACE2-Polymorphismen bekannt, die zusätzlich
zu einem individuell unterschiedlichen COVID-19-Risiko beitragen
könnten.
Die Autoren des Lancet-Artikels
betonen zwar, dass ein kausaler Zusammenhang nicht nachgewiesen sei,
mutmaßen aber, dass Patienten unter Therapie mit ACE-H oder
AT-II-RB durch diesen Mechanismus ein höheres Infektions- und
Erkrankungsrisiko durch SARS-CoV haben könnten. Eine Umstellung
auf Kalziumantagonisten bei Hypertonikern „könnte eine
geeignete alternative Therapie“ sein. Zu Ibuprofen und
Glitazonen gaben sie keine abschließende Stellungnahme ab.
Infolge dieser Publikation kam es zu großer Verunsicherung bei
Ärzten und Patienten, die hohe Wellen in der Laienpresse schlug.
Mittlerweile gibt es von den Autoren eine Stellungnahme, in der sie
betonen, dass sich ihre Publikation ausschließlich an Forscher
richtet, und keinesfalls als Handlungsanweisung für Patienten
oder behandelnde Ärzte gedacht ist (3).
In aktuellen Statements (4, 5)
europäischer und amerikanischer Fachgesellschaften (European
Society of Cardiology; Heart Failure Society of America, American
College of Cardiology, American Heart Association) und in aktuellen
Kommentaren des JAMA (6) und des J. Am. Heart Assoc. (7) wird
dringend davon abgeraten, eine bestehende Therapie mit ACE-H,
AT-II-RB oder anderen RAAS-Antagonisten abzusetzen. Aufgrund der
Komplexität des RAAS-Systems mit seinen teilweise paradoxen und
gegenläufigen Wirkungen sei ihre Rolle bei COVID-19 derzeit
völlig unklar. Die ACE2-Gewebeexpression unterscheide sich
außerdem in den einzelnen Organsystemen bei Gesunden sowie bei
kardiovaskulär und COVID-19-Kranken. Das kardiovaskuläre
Risiko durch ein unkontrolliertes Absetzen dieser Arzneimittel sei
deutlich höher einzuschätzen als das COVID-19-Risiko. Auch
bei isolierter Hypertonie (ohne DM oder Herzinsuffizienz) wird eine
Therapieumstellung (z.B. auf Kalziumantagonisten), wie sie zur Zeit
von vielen beunruhigten Patienten nachgefragt wird, zurückhaltend
gesehen, da dies potenziell zu vermehrten Arztkontakten
(Dosisfindung, Laborkontrollen, neue Nebenwirkungen) sowie
Apothekenbesuchen führe und damit zu einer verstärkten
SARS-CoV-2-Exposition. Diese Empfehlungen werden auch von einem ganz
aktuell im N. Engl. J. Med. erschienenen „Special Report“
so bestätigt (8).
Aus experimentellen Studien könnte
man sogar ableiten, dass ACE-H und AT-II-RB bei bestimmten viralen
Pneumonien einen positiven Effekt haben (5). Ein
anderer, derzeit in ersten Pilotstudien bei COVID-19-Patienten
untersuchter Therapieansatz ist lösliches ACE2, das die infolge
der Virusinfektion depletierten ACE2-Speicher auffüllen soll
(9). Es gibt bisher aber
weder experimentelle noch klinische Daten, die zeigen, dass eine der
genannten Substanzen bei COVID-19 positive oder negative klinische
Auswirkungen hätte – unabhängig davon, ob
kardiovaskuläre Vorerkrankungen bestehen oder nicht.
Vor allem beim rezeptfreien und auch
von Jüngeren häufig angewendeten Ibuprofen hatte die
entstandene Verunsicherung zahlreiche unangemessene und falsche
Informationen in Laienmedien und sozialen Netzwerken zur Folge. Eine
Twitter-Meldung, in der der französische Gesundheitsminister
unter Bezug auf den Lancet-Artikel von der Einnahme von NSAID abriet,
wirkte weiter eskalierend. Nachdem sogar ein Vertreter der World
Health Organization (WHO) vorübergehend von einer
Ibuprofen-Einnahme bei COVID-19-Verdacht abgeraten hatte, korrigierte
sich die WHO in einer Twitter-Meldung, dass sie aufgrund fehlender
Daten „nicht von einer Ibuprofen-Einnahme abrate“ (10).
Auch ein aktuelles Editorial im BMJ (11) und ein im Drug and
Therapeutics Bulletin des BMJ publiziertes Statement der European
Medicines Agency (EMA; 12) bestätigen, dass es keine
Evidenz für einen Zusammenhang zwischen der Einnahme von NSAID
und einem ungünstigen COVID-19-Verlauf gibt. Patienten unter
einer indizierten Dauertherapie mit NSAID oder auch
Azetylsalizylsäure sollen diese Arzneimittel daher nicht
absetzen. Aufgrund der bekannten Risiken von NSAID (einschließlich
kardiovaskulärer Komplikationen sowie einer möglicherweise
nachteiligen Wirkung bei Infektionen des Respirationstrakts) wird
jedoch Paracetamol als Mittel erster Wahl zur Fiebersenkung bei
COVID-19 empfohlen.
Fazit:
Unangemessene und falsche
Berichte über experimentelle Daten haben in den vergangenen
Wochen große Unsicherheit hinsichtlich eines erhöhten
Infektions- und Erkrankungsrisikos für COVID-19 unter Therapie
mit ACE-Hemmern, AT-II-Rezeptorblockern oder Ibuprofen ausgelöst.
Da es derzeit keinerlei Hinweise auf eine klinische Relevanz gibt,
raten wir in Übereinstimmung mit Fachgesellschaften von einem
Ab- oder Umsetzen einer indizierten Dauertherapie mit ACE-Hemmern
oder AT-II-Rezeptorblockern bei COVID-19 oder als COVID-19-Prävention
ab. Auch gegen eine Einnahme von Ibuprofen und anderen NSAID
einschließlich Azetylsalizylsäure gibt es – über
die Beachtung der potenziellen Nebenwirkungen hinaus – keine
Bedenken im Zusammenhang mit COVID-19.
Literatur
-
Bericht des Istituto Superiore di
Sanitá vom 20. März 2020 (nicht publiziert, liegt dem
AMB vor).
- Fang,
L., et al.: Lancet Respir. Med. 2020.
- https://www.unibas.ch/en/News-Events/
News/Uni-Research/ Ibuprofen-and-COVID-19-
Setting-the-record-straight.html

- Kuster,
G.M., et al.: Eur.
Heart
J.
2020.
- https://www.acc.org/latest-in-cardiology/articles/2020
/03/17/08/59/hfsa-acc-aha-statement-addresses
-concerns-re-using-raas-antagonists-in-covid-19

- Patel,
A.B., und Verma, A.: JAMA
2020.
- Sommerstein,
R., et al.: J.
Am. Heart
Assoc. 2020, 9,
e016509.
- Vaduganathan,
M., et al.: N. Engl. J. Med. 2020.
- Zangh,
H., et al.: Intensive Care Med. 2020, 46,
586.
- https://twitter.com/WHO/status/1240409217997189128

- Little,
P.: BMJ 2020, 368,
m1185.
- DTB
Team:
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