Wir haben ausführlich
über die ersten Studien zu Remdesivir berichtet, diesem von
großer Hoffnung begleiteten antiviralen Wirkstoff in der
Behandlung von SARS-CoV-2-infizierten Patienten. Remdesivir erhielt
im März 2020 in den USA von der Food and Drug Administration
eine „Emergency Use Autorization“ (EUA) und wurde Anfang
Juli von der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) bedingt
zugelassen (1, 2). Angesichts der gesundheitlichen Bedrohung und
des Mangels an Wissen über wirksame präventive und
therapeutische Maßnahmen wurden rasch nach Beginn der
COVID-19-Pandemie viele klinische Studien initiiert und auch
publiziert – häufig mit unzureichendem Design und nur
schwacher Evidenz hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit der
geprüften Wirkstoffe bzw. Maßnahmen. Dies hat leider auch
zu einer Vielzahl an Falschmeldungen geführt. Es besteht deshalb
jetzt ein großer Bedarf an vertrauenswürdigen, leicht
zugänglichen und regelmäßig aktualisierten Leitlinien
zu potenziell geeigneten Arzneimitteln.
Von einem Gremium, dem
klinisch tätige Ärzte, Pharmazeuten, Methodiker und auch
zwei an COVID-19 erkrankte Patienten angehörten, wurden kürzlich
Empfehlungen für die Verordnung von Remdesivir bei Patienten mit
schwerem Verlauf von COVID-19 erarbeitet (3). Diese Empfehlungen
basieren auf den Standards, die 2008 von der GRADE Arbeitsgruppe
(Grading
of Recommendations
Assessment,
Development
and Evaluation)
erarbeitet und ständig aktualisiert wurden, um die Qualität
der Evidenz sowie die relativen und absoluten Therapieeffekte für
jeden wichtigen Endpunkt in Leitlinien, Systematischen
Übersichtsarbeiten und HTA-Berichten zu beurteilen (vgl. 4).
Methodische Grundlage derartiger Empfehlungen sind eine regelmäßig
aktualisierte Systematische Übersichtsarbeit sowie
Netzwerk-Metaanalysen. Die aktuelle Leitlinie zu Remdesivir wurde im
Rahmen der „BMJ Rapid Recommendations“ erarbeitet. Diese
konzentrieren sich auf Arzneimittel, die aufgrund vorliegender
Ergebnisse, insbesondere aus randomisierten kontrollierten Studien
(RCT), das Potenzial besitzen, klinische Entscheidungen in der
Behandlung von Patienten mit COVID-19 zu beeinflussen (3). Anlass für
die jetzt veröffentlichte Leitlinie waren die im Mai 2020 im N.
Engl. J. Med. publizierten Ergebnisse des in den USA vom „National
Institute of Allergy and Infectious Diseases“ (NIAID)
durchgeführte RCTs (Adaptive
COVID-19
Treatment
Trial-1
= ACTT-1), das ebenso wie das in China durchgeführte RCT
Wirksamkeit und Sicherheit von Remdesivir bei Patienten mit schwerem
Verlauf von COVID-19 mit Plazebo verglichen hat (5, 6). In
beiden RCTs wurde 200 mg Remdesivir an Tag 1, gefolgt von
100 mg an 9 weiteren Tagen intravenös verabreicht. Gilead,
der pharmazeutische Hersteller von Remdesivir, stellte das
Arzneimittel kostenlos für beide Studien zur Verfügung und
war auch an der Erstellung des Protokolls der ACTT-1-Studie
beteiligt.
Das Leitlinien-Gremium
berücksichtigte bei der Erarbeitung der Empfehlungen zu
Remdesivir vor allem das Nutzen-Schaden-Risiko und den Grad der
Evidenz für die untersuchten Endpunkte, aber auch die Kosten von
Remdesivir sowie individuelle Werte, Präferenzen und Akzeptanz
der Patienten (3).
Die Leitlinie spricht
zwei
Empfehlungen aus, die in entsprechenden Abbildungen anhand der
vorliegenden Daten, abhängig vom Schweregrad der Erkrankung und
dem Evidenzprofil, auch visualisiert werden (3). Die erste
Empfehlung
schlägt Remdesivir für die Behandlung schwer an COVID-19
erkrankten erwachsenen Patienten vor. Diese Empfehlung basiert
allerdings auf schwacher Evidenz angesichts einer nur moderaten
Verkürzung der Zeit bis zur klinischen Besserung und fehlendem
Effekt auf die Dauer des Krankenhausaufenthalts. Das Risiko für
schwere Nebenwirkungen von Remdesivir (z.B. Hyperglykämie,
Erhöhung der Transaminasen, Niereninsuffizienz) wird als sehr
gering eingestuft. Grundsätzlich sollte Remdesivir nur
zusätzlich zu einer supportiven Standardbehandlung injiziert
werden. Die zweite
Empfehlung
betont die Notwendigkeit, Remdesivir weiterhin in RCTs bei Patienten
mit COVID-19 zu untersuchen, da nur durch zusätzliche Studien
die noch bestehende Unsicherheit in Bezug auf eine Senkung der
Mortalität, Verkürzung des Krankenhausaufenthalts und das
Ausmaß der klinischen Verbesserung ausgeräumt werden kann.
Weitere Ergebnisse zu Nutzen und Schaden von Remdesivir werden
insbesondere benötigt in Ländern, deren Gesundheitssysteme
bzw. Krankenhäuser über limitierte ökonomische
Ressourcen verfügen. Das ursprüngliche Vorhaben dieser
Leitliniengruppe, unterschiedliche Subgruppen auszuwerten (z.B.
kritisch kranke versus nicht kritisch kranke Patienten, früher
Beginn gegenüber späterem Beginn der Therapie mit
Remdesivir, Patienten ohne Sauerstoffbedarf gegenüber solchen
mit Sauerstoffbedarf) konnte aufgrund fehlender Daten aus klinischen
Studien nicht verwirklicht werden (3).
Die ebenfalls derzeit
nicht eindeutig zu beantwortende Frage, ob durch Remdesivir auch bei
moderat kranken Patienten mit COVID-19 eine klinische Besserung
erzielt werden kann, wurde kürzlich in einer Studie in
105 Krankenhäusern in den USA, Asien und Europa untersucht
(7). Bei Patienten mit bis dahin klinisch moderat verlaufener
SARS-CoV-2-Infektion wurde die 5- oder 10-tägige Therapie mit
Remdesivir mit der Standardversorgung verglichen. Unter moderatem
Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion wurden Patienten definiert, die
typische pulmonale Infiltrate in der Bildgebung und (noch) eine
Sauerstoffsättigung > 94% unter Raumluft hatten; die PCR
aus dem Rachenabstrich für SARS-CoV-2 musste positiv sein. Die
Patienten wurden von März bis April 2020 eingeschlossen und bis
Mai 2020 nachverfolgt. Zunächst war ein verblindetes RCT
geplant, konnte aber in dieser Form nicht umgesetzt werden. Die
Randomisierung erfolgte 1:1:1. In den 5-tägigen Behandlungsarm
wurden 199, in den für 10 Tage geplanten Behandlungsarm 197
und in den Standard-Versorgungsarm 200 Patienten eingeschlossen.
Die intravenöse Therapie mit Remdesivir begann mit 200 mg
am ersten Tag, gefolgt von 100 mg an jedem weiteren
Behandlungstag. Der zusammengesetzte Endpunkt wurde am Tag 11
erhoben. In ihn gingen klinische Kriterien ein, die den
Genesungsvorgang in einer Punkteskala erfassten, wie z.B.: Zeit bis
zur Heilung, Zeit bis zum Beginn einer klinischen Besserung, Ausmaß
der klinischen Besserung, Zeit bis zum Beenden einer
Sauerstofftherapie. Außerdem wurde die Zeit bis zur Entlassung
und Tod (aus allen Gründen) registriert. Die einzelnen Scores
wurden an den Tagen 5, 7 und 11 erhoben. Weiterhin wurden
Nebenwirkungen erfasst. Wie alle Remdesivir-Studien bisher wurde auch
diese vom pharmazeutischen Hersteller Gilead finanziell unterstützt
(7).
Es wurden 584 Patienten
(im Median 57 Jahre alt) eingeschlossen: 39% Frauen, 56% mit
kardiovaskulären Erkrankungen, 42% mit arterieller Hypertonie
und 40% mit Diabetes. Insgesamt 533 Patienten (91%) schlossen
die Studie ab. Die mediane Behandlungsdauer war 5 Tage im
vorgesehenen 5-Tage-Behandlungsarm und 6 Tage im
10-Tage-Behandlungsarm. Am Tag 11 hatten die Patienten im
5-Tage-Behandlungsarm statistisch einen besseren Score als die im
10-Tage-Behandlungsarm und die im Standard-Behandlungsarm (Odds
ratio: 1,65; 95%-Konfidenzintervall: 1,09-2,48; p = 0,02).
Zwischen dem 10-Tage-Behandlungsarm und dem Standard-Behandlungsarm
gab es an Tag 11 keinen Unterschied. Am Tag 28 waren
insgesamt 9 Patienten gestorben: 2 (1%) im
5-Tage-Behandlungsarm, 3 (2%) im 10-Tage-Behandlungsarm und 4 (2%) im
Standard-Behandlungsarm. Übelkeit, Hypokaliämie und
Kopfschmerzen waren deutlich häufiger in den Remdesivir-Gruppen.
Die Autoren diskutieren kritisch über das Ergebnis ihrer Studie
und interpretieren die klinische Verbesserung im
5-Tage-Behandlungsarm als unklare klinische Relevanz. In den vielen
kritischen Leserbriefen zu diesem Artikel wird zu Recht darauf
hingewiesen, dass die Patienten im vorgesehenen
10-Tage-Behandlungsarm im Median nur 6 Tage lang tatsächlich
mit Remdesivir behandelt wurden. Zudem bleibt ungeklärt, warum
sich nach 5-tägiger Behandlung mit Remdesivir ein geringer
klinischer Vorteil ergeben hat, der aber bei 6-tägiger
Behandlung nicht mehr nachweisbar ist.
Wir schließen uns
der Einschätzung der Autoren eines begleitenden Editorials (8)
und der o.g. Leitlinie (3) an, dass weitere große RCTs
notwendig sind, um bestimmte Gruppen von COVID-19-Erkrankten zu
erkennen, die tatsächlich von dieser Behandlung profitieren.
Einen aktuellen Überblick über die bisherigen
therapeutischen Ergebnisse teils noch laufender Studien zu Remdesivir
sowie Empfehlungen für die Praxis hat das American College of
Physicians kürzlich veröffentlicht (9).
Fazit:
Die im Rahmen der „BMJ Rapid Communications“ erarbeitete
Leitlinie empfiehlt Remdesivir (Veklury®)
– mit
allerdings schwacher Evidenz – nur
für
die Behandlung von schwer an COVID-19 erkrankten Erwachsenen. Dabei
wird das Risiko für schwere Nebenwirkungen von Remdesivir als
gering eingestuft. Remdesivir muss weiterhin in RCTs bei Patienten
mit COVID-19 untersucht werden, um bessere Evidenz hinsichtlich
Senkung der Mortalität und Verkürzung des
Krankenhausaufenthalts zu generieren. Aktuelle
Ergebnisse eines RCT bei moderat kranken Patienten mit COVID-19
ergaben keine eindeutigen Hinweise für eine klinische
Verbesserung nach Behandlung mit Remdesivir über 5 oder 10 Tage.
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