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Ist die Reduktion von Antihypertensiva bei alten Patienten möglicherweise ohne negative kardiovaskuläre Folgen?

DER ARZNEIMITTELBRIEF hat mehrfach über Multimedikation, ihre negativen Auswirkungen und die vielfältigen, meist erfolglosen Versuche berichtet, Lösungen für dieses komplexe Problem zu finden (1). Antihypertensiva gehören zu den häufigsten dauerhaft eingenommenen Arzneimitteln, und ihre positive Wirkung auf kardiovaskuläre, renale und neurologische Endpunkte ist gut belegt. Andererseits können sie, besonders bei alten Patienten mit Komorbiditäten, auch unerwünschte Wirkungen sowie Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten nach sich ziehen.

Ein aktuelles Cochrane Review befasst sich mit den potenziellen Auswirkungen des Absetzens von Antihypertensiva auf kardiovaskuläre Endpunkte bei älteren Menschen (2):

Analysierte Studien: Die primäre Suche ergab zunächst 3.677 Artikel; davon blieben aber letztlich nur 6 Studien mit insgesamt 1.073 Patienten, die die Reviewkriterien vollständig erfüllten: a. randomisierte, kontrollierte Studien; b. Hypertoniker > 50 Jahre; c. Vergleich Fortführung versus Absetzen/Dosisreduktion der antihypertensiven Therapie; d. primäre Endpunkte: Mortalität, Myokardinfarkt, unerwünschte Reaktionen auf Arzneimittel oder auf das Absetzen. Es handelt sich um Studien mit kleinen Patientenzahlen: zwei Studien mit < 100 und vier Studien mit 100-400 Patienten. In dem Review werden keine konkreten Gründe für die angestrebte Reduktion der Arzneimittel oder Kriterien für das Absetzen der Antihypertensiva genannt. Vier der Studien wurden im hausärztlichen Bereich (Primärversorgung) und zwei an geriatrischen Einrichtungen durchgeführt. Das mittlere Alter der Patienten in den sechs Studien lag zwischen 59 und 82 Jahren. Auch die Nachbeobachtungszeiten reichten über eine weite Spanne: 4-56 Wochen.

Ergebnisse: Die Metaanalyse zeigte in der Absetzgruppe nicht signifikant erhöhte Werte für Gesamtmortalität (Odds Ratio = OR: 2,08; 95%-Konfidenzintervall = CI: 0,79-5,46), Myokardinfarkt (OR: 1,86; CI: 0,19-17,98) und Schlaganfall (OR: 1,44; CI: 0,25-8,35). Der Blutdruck war in der Absetzgruppe erwartungsgemäß höher (mittlere Differenz systolisch: 9,75 mm Hg; CI: 7,33-12,18; diastolisch: 3,5 mm Hg; CI: 1,82-5,18). In der Absetzgruppe benötigten mehr Patienten doch wieder Antihypertensiva (10,5%-33,3% vs. 9%-15%). Eine Metaanalyse hinsichtlich unerwünschter Arzneimittel- oder Absetzreaktionen war nicht möglich, da die Studien darüber zu wenige Angaben machten. Effekte auf Lebensqualität oder Häufigkeit von Krankenhausaufnahmen wurden nicht gefunden, allerdings wurden diese Endpunkte nur in je einer Studie untersucht.

Schlussfolgerungen und Einschränkungen: Aus dem Review ergeben sich keine eindeutigen Hinweise auf negative Effekte einer Reduktion von Antihypertensiva. Die Autoren geben allerdings zu bedenken, dass Empfehlungen mit konkreten Kriterien zur Therapiereduktion (“Deprescribing”; 3) nicht möglich sind, da es aufgrund der zu kleinen Studien und zu geringer Ereignisraten dafür keine ausreichende Evidenz gibt. Sie listen eine ganze Reihe unterschiedlicher Arten von potenziellem Bias auf, die sie in den 6 untersuchten Studien fanden (Allocation/Selection, Blinding, Attrition, Reporting; vgl. 4).

In diesem Zusammenhang sei auch die aktuell im JAMA publizierte OPTIMISE-Studie erwähnt (5). Sie schloss 2017/2018 in 69 britischen primären Versorgungszentren 569 Hypertoniker ≥ 80 Jahre (im Mittel 85 Jahre) ein, die mindestens 2 Antihypertensiva einnahmen und bei denen vom Hausarzt eine Reduktion der Arzneimittel empfohlen worden war. Sie wurden 1:1 randomisiert für Absetzen eines Antihypertensivums versus Beibehaltung der üblichen Therapie (nicht verblindet); zur Analyse gelangten letztlich 534 Patienten (265 vs. 269). Primärer Endpunkt waren hier allerdings keine klinischen Endpunkte, sondern ein systolischer Blutdruck von < 150 mm Hg nach 12 Wochen, also ein Surrogatparameter.

Ergebnisse: Der primäre Endpunkt trat bei 86,4% vs. 87,7% der Patienten ein, was einer Nicht-Unterlegenheit entspricht (Differenz -1,3%; 97,5%-Konfidenzintervall = CI: -7,0% bis ; adjustiertes relatives Risiko: 0,98; CI: 0,92 bis ). Der systolische Blutdruck lag in der Absetzgruppe allerdings um ca. 3 mm Hg höher. Keine signifikanten Unterschiede fanden sich in den sekundären Endpunkten Gebrechlichkeit (frailty), Lebensqualität und unerwünschte Ereignisse.

Schlussfolgerungen und Einschränkungen: Die OPTIMISE-Studie hatte nicht die statistische Stärke und eine zu kurze Nachbeobachtungszeit, um die erwähnten sekundären Endpunkte oder die Auswirkung auf klinische Endpunkte valide zu beurteilen. Die Ergebnisse deuten aber darauf hin, dass bei Patienten > 80 Jahre eine Therapiereduktion nicht mit einer „substanziellen“ Änderung des Blutdrucks einhergeht. Wie die Autoren betonen, beschreibt ihre Arbeit einen strukturierten Ansatz für die Reduktion einer antihypertensiven Arzneimitteltherapie in der klinischen Praxis und für künftige Studien.

Abschließend halten sowohl die Autoren des Cochrane-Reviews als auch die JAMA-Autoren in der Diskussion ihrer Arbeiten fest, dass in Patientenpopulationen mit besonders unsicherer Risiko-Nutzen-Relation einer blutdrucksenkenden Arzneimitteltherapie (ältere und alte, gebrechliche Patienten mit Multimedikation, Komorbiditäten, Demenz, begrenzter Lebenserwartung) sorgfältig geplante Absetzstudien dringend erforderlich sind. Diese müssen ausreichend große Teilnehmerzahlen und ausreichend lange Nachbeobachtungszeiten haben und neben kardiovaskulären Endpunkten auch Stürze, Lebensqualität und Nebenwirkungen einbeziehen. Mehrere solcher „Deprescribing“-Studien sind bereits angelaufen.

Fazit: Ein aktuelles Cochrane-Review kleiner randomisierter Studien ergibt keine Hinweise auf negative kardiovaskuläre Effekte durch das Absetzen oder Reduzieren von Antihypertensiva bei älteren Patienten. Konkrete Handlungsanleitungen für die Praxis sind wegen der begrenzten Daten daraus nicht abzuleiten. Gut konzipierte Absetzstudien mit Risikopatienten (Ältere, Gebrechliche, Komorbiditäten, Multimedikation) sind dringend erforderlich. Im klinischen Alltag sollte bei diesen Patienten kontinuierlich Nutzen und Risiken der Arzneimitteltherapie abgewogen und gegebenenfalls (beispielsweise bei Hypotonie- und Sturzgefahr) die Therapie in Absprache mit dem Patienten unter Monitoring des Blutdrucks reduziert werden.

Literatur

  1. AMB 2020, 54, 68DB01 Link zur Quelle . AMB 2018, 52, 88DB01 Link zur Quelle . AMB 2018, 52, 23. Link zur Quelle
  2. Reeve, E., et al.:
    https://www.cochranelibrary.com/cdsr/doi/10.1002/14651858.CD012572.pub2/full Link zur Quelle
  3. AMB 2018, 52, 23 Link zur Quelle . AMB 2018, 52, 88DB01 Link zur Quelle . AMB 2014, 48, 80DB01. Link zur Quelle
  4. AMB 2017, 51, 64DB01. Link zur Quelle
  5. Sheppard, J.P., et al. (OPTIMISE = OPTImising treatment for MIld Systolic hypertension in the Elderly): JAMA 2020, 323, 2024. Link zur Quelle