Artikel herunterladen

Quantifizierung des Nozebo-Effekts am Beispiel der Statine

Unter einem Nozeboeffekt wird, analog zum Plazeboeffekt, eine negative Reaktion auf eine therapeutische Intervention ohne einen bekannten spezifischen Wirkmechanismus verstanden (1). Entwickelt ein Patient unter einer Therapie Nebenwirkungen, dann können diese zufällig sein (koinzidentell), pharmakologisch durch das Medikament ausgelöst werden (spezifische Nebenwirkung) oder einer Nozebo-Reaktion entsprechen. Das Auftreten eines Nozebo-Effekts wird von mehreren Faktoren begünstigt, darunter von Informationen, die den Patienten gegeben werden (Erwartung) und den Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit mit Arzneimitteln gemacht haben (Konditionierung; 2, 3). Entsprechend ist die Häufigkeit von Nozebo-Effekten sehr variabel; sie wird mit durchschnittlich 19-27% angegeben (4).

Ein häufiges und daher klinisch sehr relevantes Problem sind Statin-Unverträglichkeiten (vgl. 5). Diese umfassen Myalgien, Arthralgien, Müdigkeit, Schlafstörungen, Dyspepsie u.v.a. Diese Symptome führen häufig zum Absetzen der Statine oder zur Reduktion der Dosis. Ärzte vom Imperial-College in London haben zur Quantifizierung des Nozebo-Effekts bei Statin-Unverträglichkeiten ein kleines, sehr gut gewähltes, sog. „N-of-1-Trial“ durchgeführt. Bei diesem Studiendesign erhält ein Patient mehrere per Zufall ausgewählte Behandlungsformen nacheinander und dient somit als seine eigene Kontrolle. Die Studie mit dem Akronym SAMSON wurde gerade im N. Engl. J. Med. veröffentlicht (4).

Eingeschlossen wurden Patienten mit berichteter Statin-Unverträglichkeit. Diese war so definiert, dass die Symptome innerhalb von 2 Wochen nach Therapiebeginn aufgetreten sind und zu einem Therapieabbruch geführt haben. Es sollte geprüft werden, ob diese Symptome nur durch das Statin oder auch durch ein Plazebo induziert werden können. Zudem sollten koinzidentelle Symptome möglichst herausgerechnet werden. Hierzu erfolgten über 12 Monate in zufälliger Abfolge jeweils 1-monatige Behandlungssequenzen mit Statin (20 mg/d Atorvastatin), Plazebo oder ohne Prüfmedikation. Jede/r erhielt 12 Pillendosen: 4 leere, 4 mit Atorvastatin und 4 mit Plazebo, wobei die Tabletten mit Plazebo und Statin nicht zu unterscheiden waren. Die Reihenfolge der Einnahme wurde durch ein Computerprogramm festgelegt. Die Studienteilnehmer berichteten täglich über eine App über Art und Intensität ihrer Nebenwirkungen auf einer visuellen Analogskala von 0 (keine Symptome) bis 100 (schlimmste vorstellbare Intensität). Waren die Symptome inakzeptabel, konnte die Therapie für diesen Monat abgesetzt werden.

Der primäre Endpunkt war die sog. „Nozebo-Ratio“. Diese wird berechnet durch das Verhältnis von Symptomintensität bei Einnahme eines Plazebos minus der Symptomintensität ohne Medikation (im Zähler) zur Symptomintensität mit Einnahme des Statins minus der Symptomintensität ohne Medikation (im Nenner). Wenn also beispielsweise die Symptomintensität im Mittel der 4 Anwendungen mit Plazebo 30, ohne Prüfsubstanz 10 und mit Atorvastatin 60 beträgt, dann errechnet sich eine Nozebo-Ratio von 0,4 (30-10)/(60-10). Ist die Symptomintensität mit Plazebo und Statin gleich, dann beträgt die Nozebo-Ratio 1, und sie kann sogar > 1 betragen, wenn die Symptome der Unverträglichkeit unter Plazebo stärker sind als unter Statin.

Ergebnisse: Es wurden insgesamt 60 Patienten randomisiert. Bei den meisten waren zuvor schon mehrere Behandlungsversuche unternommen worden, im Mittel mit zwei verschiedenen Statinen. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer betrug 65,5 Jahre, 42% waren Frauen, drei Viertel erhielten das Statin zur Primär- und ein Viertel zur Sekundärprävention.

Insgesamt beendeten 49 Teilnehmer alle 12 Monate der Studie, 11 brachen vorzeitig ab. Die mittlere Symptomintensität der Nebenwirkung betrug in den Monaten ohne Prüfmedikation 8,0 (95%-Konfidenzintervall = CI: 4,7-11,3), in den Monaten mit Plazebo 15,4 (CI: 12,1-18,7; p < 0,001 für den Vergleich mit Monaten ohne Tabletten) und in den Monaten mit Atorvastatin 16,3 (CI: 13,0-19,6; p < 0,001 für den Vergleich ohne Tabletten und p = 0,39 für den Vergleich mit Plazebo). Es setzten 24 von 49 Teilnehmern (49%) die Studienmedikation mindestens einmal wegen nicht tolerierbarer Nebenwirkungen ab. Insgesamt gab es 71 Unterbrechungen der Tabletteneinnahme, 31 während Plazebo- und 40 während Statin-Einnahme.

Die intraindividuelle Auswertung ergab eine durchschnittliche Nozebo-Ratio von 0,90. Das bedeutet, dass bei 9 von 10 Studienteilnehmern, die eine Statin-Behandlung aufgrund von Unverträglichkeiten im Vorfeld abgebrochen hatten, diese durch eine Nozebo-Reaktion hervorgerufen wurden. Dies deckt sich mit den Befunden der 2016 publizierten GAUSS-3-Studie, in der hinsichtlich der Statin-Myopathie ebenfalls ein hoher Anteil von Nozebo-Reaktionen (> 50%) gefunden wurde (6).

Nach Eröffnung und Erläuterung der Ergebnisse am Ende der Studie konnte die Statin-Behandlung bei der Hälfte der Teilnehmer (30/60) erfolgreich neu begonnen werden. Der Nozebo-Effekt scheint also nicht unüberwindbar.

Fazit: Bei der Mehrzahl der Statin-Unverträglichkeiten handelt es sich nach den Ergebnissen dieser Studie um eine Nozebo-Reaktion. Dem könnte präventiv durch aktive Entkräftung einer entsprechenden Erwartungshaltung im Rahmen eines intensiven Arzt-Patienten-Gesprächs begegnet werden und auch möglicherweise therapeutisch durch Erläuterung dieses besonderen Effekts.

Literatur

  1. EbM-Glossar – Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.: Link zur Quelle (Zugriff 16.11.2020). Vgl. AMB 2017, 51, 25. Link zur Quelle
  2. Bingel, U., und Schedlowski, M.: Placebo- und Nocebo-Antworten: Psychologische und neurobiologische Grundlagen und Implikationen für die Klinik. In: Wirkprinzipien der Placeboeffekte in der medizinischen Behandlung. Hrsg.: Hauck, E., und Huster, S. Nomos Verlag, Baden-Baden 2019. Seite 29 ff.
  3. Colloca, L., und Barsky, A.J.: N. Engl. J. Med. 2020, 382, 554. Link zur Quelle
  4. Wood, F.A., et al. (SAMSON = Self-Assessment Method for Statin side-effects Or Nocebo): N. Engl. J. Med. 2020, 383, 2182. Link zur Quelle
  5. AMB 2017, 51, 32. Link zur Quelle
  6. Nissen, S.E, et al. (GAUSS-3 = Goal Achievement after Utilizing an Anti-PCSK9 antibodyin Statin intolerant Subjects-3): JAMA 2016, 315, 1580. Link zur Quelle AMB 2017, 51, 32. Link zur Quelle