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Therapie bei COVID-19: Aktuelles zur Antikoagulation

Vor vier Monaten haben wir über die deutlich erhöhte Inzidenz venöser und arterieller thromboembolischer Komplikationen bei unterschiedlich schweren Verläufen von COVID-19 berichtet sowie über die zugrunde liegenden heterogenen Pathomechanismen. Es gab damals vorläufige Studienergebnisse und erste Expertenempfehlungen zur antithrombotischen Therapie bei COVID-19 (1).

Experten stimmen jetzt darin überein, dass alle im Krankenhaus behandelten Patienten mit COVID-19 eine Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin (NMH) erhalten sollen; Unklarheit herrscht aber weiterhin über die angemessene Dosierung („prophylaktisch – intermediär – therapeutisch“) sowie über das Vorgehen bei ambulanten und entlassenen Patienten. In vielen Zentren wurden im frühen Pandemieverlauf verhältnismäßig großzügig höhere („intermediäre“ und „therapeutische“) NMH-Dosierungen empfohlen, insbesondere bei schweren Verläufen. Anlässlich einer aktuell in Lancet Haematology erschienenen Übersichtsarbeit (2) geben wir hier ein kurzes Update zu aktuellen Therapieempfehlungen. Die Autoren dieser Publikation differenzieren COVID-19 schematisch in 4 Schweregrade bzw. Stadien (s. Tab. 1).

Studiendaten: Es gibt eine große und stetig wachsende Zahl heterogener, kleiner Beobachtungsstudien, aber nach wie vor keine endgültigen Daten aus großen kontrollierten randomisierten Studien (CRT). Die umfassendsten Daten sind aus den in einer Plattform zusammengeschlossenen Studien mit den Akronymen REMAP-CAP, ACTIV-4 und ATTACC zu erwarten (1). Die randomisierte, nicht verblindete ACTIV-4-Studie ist Teil des von den US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) – sowie zahlreichen pharmazeutischen Unternehmen – gesponserten umfassenden COVID-19-Studienprogramms ACTIV (Accelerating COVID-19 Therapeutic Interventions and Vaccines) und befasst sich als bisher einzige Studie mit der antithrombotischen Therapie in allen vier der im Folgenden genannten COVID-19-Stadien.

Stadium 1 und 4 (ambulante und entlassene Patienten): ACTIV-4 untersucht hier Apixaban und Azetylsalizylsäure; Ergebnisse wurden noch nicht publiziert. Umfassende Evidenz zur Thromboseprophylaxe in diesen Patientengruppen ist auch in nächster Zeit weiterhin nicht zu erwarten, da sie in anderen Studien nur gering repräsentiert sind.

Stadium 2 („hospitalisiert“, moderat erkrankt): Die Studien REMAP-CAP, ACTIV-4 und ATTACC unterbrachen Ende Februar in der Gruppe der moderat Erkrankten nach präspezifizierten Kriterien den Einschluss von Patienten, da ein positiver Effekt einer therapeutischen NMH-Dosierung auf den kombinierten primären Endpunkt (Organersatz-freies Überleben bis Tag 21) im Vergleich zu einer prophylaktischen NMH-Dosierung erreicht wurde (Odds Ratio = OR: 1,55; 95%-Konfidenzintervall = CI: 1,12-2,18; präliminäre Interimsdaten: s. 3; noch nicht publiziert). Bevor für moderat COVID-19-Erkrankte eine hochdosierte („therapeutische“) Thromboseprophylaxe empfohlen werden kann, müssen die endgültigen (publizierten) Ergebnisse dieser und weiterer Studien abgewartet werden, wie z.B. der kanadischen RAPID-Studie (4, 5), die den Einschluss von Patienten bereits beendet hat (465 Patienten, nicht verblindet, 1:1 randomisiert für therapeutische vs. Standard-Antikoagulation).

Stadium 3: Wie wir berichtet haben (1) wurde der Einschluss von Intensivpatienten in REMAP-CAP, ACTIV-4 und ATTACC bereits im Dezember 2020 unterbrochen – hier allerdings wegen fehlender positiver Effekte bzw. möglicher negativer Auswirkungen einer therapeutischen NMH-Dosierung im Vergleich zu einer heterogenen Kontrollgruppe mit teils prophylaktischer, teils intermediärer Dosierung. Mittlerweile wurden vorläufige Daten von 1.089 ausgewerteten Patienten als Preprint publiziert (6): Die Antikoagulation in therapeutischer Dosis zeigte im Vergleich zu niedrigeren Dosierungen zwar eine geringere Inzidenz schwerer thrombotischer Ereignisse (6% vs. 10%), aber im sekundären kombinierten Effektivitätsendpunkt, bestehend aus schweren thrombotischen Ereignissen und Tod, keinen Unterschied (41,4% vs. 42,7%; OR: 1,05; CI: 0,79-1,41). Auch schwere Blutungen traten in beiden Gruppen nicht signifikant unterschiedlich auf (3,1% vs. 2,4%; OR: 1,19; CI: 0,57-2,49). Die einzige vollständig publizierte randomisierte Studie zur Antikoagulation bei COVID-19 ist die INSPIRATION-Studie, die von einem internationalen Komitee geplant und in 10 iranischen Zentren durchgeführt wurde (7). Sie verglich die Wirkung einer prophylaktischen Standarddosis mit einer intermediären Dosis an 286 vs. 276 (unselektierten und sehr heterogenen) schwer an COVID-19 erkrankten Patienten. Im primären kombinierten Effektivitätsendpunkt (venöse oder arterielle Thrombosen, ECMO-Bedarf, Mortalität) fand sie keinen signifikanten Unterschied (44,1% vs. 45,7%; OR: 1,06; CI: 0,76-1,48; p = 0,70), während schwere Blutungen unter der höheren Dosis häufiger waren (1,4% vs. 2,5%; OR: 1,83; einseitiges CI: 0,00-5,93).

Verschiedene Studien untersuchen derzeit in den Stadien 2 und 3 auch andere Antithrombotika wie direkte orale Antikoagulanzien (DOAK) und Thrombozytenaggregationshemmer; Daten liegen noch nicht vor.

Zusammenfassend scheint sich somit eine Tendenz dahingehend abzuzeichnen, dass moderat COVID-19-Erkrankte von einer höheren als der prophylaktischen Standard-NMH-Dosis profitieren, während schwer Erkrankte – trotz ihres höheren Thromboserisikos – insgesamt keinen Vorteil haben dürften. Erklärungen hierfür, z.B. höhere Blutungsrisiken bei schwerem Krankheitsverlauf und invasivere Therapie, sind vorerst hypothetisch. Von einer gesicherten Evidenz, um klare Handlungsempfehlungen für die Praxis abzuleiten, ist man noch weit entfernt.

Empfehlungen: Die Publikation in Lancet Haematology gibt einen Überblick über 9 von Mai 2020 bis März 2021 von verschiedenen nationalen und internationalen Fachgesellschaften sowie der WHO publizierte Empfehlungen zur Antikoagulation bei COVID-19. Aufgrund limitierter Daten beruhen die Empfehlungen ausschließlich auf Experten-Konsens. Sie stimmen letztlich nur darin überein, dass alle im Krankenhaus behandelten Patienten eine Thromboseprophylaxe mit NMH bekommen sollen. Sie unterscheiden sich aber in der Dosierung und individuellen Entscheidungskriterien sowie in klinischen und laborchemischen Parametern.

Die Lancet-Autoren geben abschließend folgende persönliche Einschätzungen:

  • Bei ambulanten Patienten im Stadium 1 wird keine routinemäßige Antikoagulation empfohlen; die Beachtung adäquater Allgemeinmaßnahmen wie Mobilisierung und ausreichende Hydrierung wird betont. Eine Antikoagulation mit NMH in prophylaktischer Dosierung kann, soll aber nach individueller Abwägung von höherem Thromboserisiko (Progression klinischer Symptome, erhöhte D-Dimere und Entzündungsparameter, Immobilisierung, Adipositas, Malignom, Thrombophilie, TVT/PE in der Vorgeschichte etc.) und Blutungsrisiko erwogen werden.

  • Bei Patienten im Krankenhaus, sowohl im Stadium 2 als auch im Stadium 3 empfehlen die Autoren eine prophylaktische Standard-NMH-Dosierung als Routinevorgehen. Im Hinblick auf höhere Dosierungen raten sie eher zur Zurückhaltung aufgrund der ungünstigen Signale aus den neueren, jedoch sehr spärlichen Studiendaten, insbesondere bei schwerer erkrankten Patienten.

  • Für entlassene Patienten (Stadium 4) wird ebenfalls keine routinemäßige Antikoagulation empfohlen, es sei denn, es besteht eine Risikosituation, wie persistierende Immobilisierung und/oder Inflammationszeichen oder andere individuelle Risikofaktoren (s.o.).

Fazit: Unsere Einschätzung zur Antikoagulation bei Patienten mit COVID-19 ist unverändert: Ob bei intensivpflichtigen COVID-19-Patienten eine höher dosierte Antikoagulation mit einem ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis verbunden ist, während mäßig schwer erkrankte (nicht intensivpflichtige) hospitalisierte COVID-19-Patienten eher davon profitieren, müssen weitere Studien klären. Auch bei leicht erkrankten (ambulanten) COVID-19-Patienten und bei entlassenen Patienten nach COVID-19 können weiterhin keine generellen Empfehlungen für eine Antikoagulation gegeben werden. Differenzierte Expertenmeinungen bilden sich allmählich heraus, beruhen derzeit aber noch auf schwacher Evidenz.

Literatur

  1. AMB 2021, 55, 16. Link zur Quelle
  2. Leentjens, J., et al.: Lancet Haematology 2021, April 27. Link zur Quelle
  3. ATTACC, ACTIV-4a and REMAP-CAP: Results of Interim Analysis. Jan 28, 2021. Link zur Quelle
  4. https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04362085 Link zur Quelle
  5. Sholzberg, M., et al. (RAPID COVID COAG = A pragmatic randomised controlled trial of therapeutic anticoagulation versus standard care as a rapid response to the COVID-19 pandemic): Trials 2021, 22, 202. Link zur Quelle
  6. The REMAP-CAP, ACTIV-4a, ATTACC Investigators, Zarychanski, R.: medRxiv 2021; published online March 12, preprint. Link zur Quelle
  7. Sadeghipour, P., et al. (INSPIRATION = Intermediate vs standard-dose prophylactic anticoagulation in critically-ill patients with COVID-19): JAMA 2021, 325, 1620. Link zur Quelle

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