Artikel herunterladen

Arzneimittel mit erheblichem Zusatznutzen bei der frühen Nutzenbewertung 2021

Aufgabe des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) ist es, den Zusatznutzen neu zugelassener Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen oder einem neuen Anwendungsgebiet innerhalb von 6 Monaten gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie (ZVT) zu bewerten [1]. Bei den Bewertungen zum Ausmaß des Zusatznutzens unterscheidet der G-BA unter anderem folgende Kategorien: „gering“ = niedrigstes Ausmaß, „beträchtlich“ = mittleres Ausmaß und „erheblich“ = höchstmögliches Ausmaß. Für eine Bewertung in der Kategorie „erheblich“ ist erforderlich, dass für das Arzneimittel im Vergleich zur ZVT „eine nachhaltige und bisher nicht erreichte große Verbesserung des therapierelevanten Nutzens“ gezeigt wurde. Dies beinhaltet eine Heilung, eine erhebliche Verlängerung der Überlebensdauer oder eine langfristige Freiheit von schwerwiegenden Symptomen bei weitgehender Vermeidung schwerwiegender Nebenwirkungen.

In einer Pressemitteilung informiert der G-BA darüber, dass im Jahr 2021 insgesamt 146 Verfahren zur frühen Nutzenbewertung von Arzneimitteln abgeschlossen wurden [2]. Davon betrafen 56 Verfahren zu neuen Arzneimitteln gegen bösartige Erkrankungen. Der Anteil von Arzneimitteln gegen seltene Krankheiten (Orphan drugs) lag bei 19% und damit auf ähnlichem Niveau wie in früheren Jahren. Bei etwas mehr als der Hälfte der Bewertungen (74/146, 51%) sah der G-BA einen Zusatznutzen als nicht belegt. Für die drei Orphan drugs in fünf Anwendungsgebieten stellte der G-BA jedoch einen erheblichen Zusatznutzen fest. Zwei davon sind Arzneimittel für neuartige Therapien (Advanced Therapy Medicinal Products = ATMP). ATMP sind Arzneimittel für die Anwendung beim Menschen, die auf Genen, Geweben oder Zellen basieren.

  • Für die Wirkstoffkombination Ivacaftor/Tezacaftor/Elexacaftor (Kaftrio®) in Kombination mit Ivacaftor (Kalydeco®) zur Behandlung der Zystischen Fibrose (Mukoviszidose) bei Patienten ab 12 Jahren für zwei unterschiedliche genetische Ausprägungen. Für das Orphan drug wurde nach Überschreiten der Umsatzgrenze von 50 Mio. € eine reguläre Nutzenbewertung mit Vergleich zu einer Therapiealternative durchgeführt. In den vom pharmazeutischen Unternehmer (pU) vorgelegten Studien ergaben sich statistisch signifikante Unterschiede zugunsten von Ivacaftor/Tezacaftor/Elexacaftor plus Ivacaftor im Vergleich zu Tezacaftor/Ivacaftor plus Ivacaftor bzw. „Best Supportive Care“ (BSC), beispielsweise hinsichtlich pulmonaler Exazerbationen und der Lebensqualität [3] [4]. Die Zystische Fibrose beruht auf einem Defekt des CFTR-Gens (= Cystic Fibrosis Transmembrane Conductance Regulator-Gen), der zu einer Funktionsstörung des gleichnamigen Chlorid-Ionen-Kanals der Zellmembran und zu einer Viskositätserhöhung von Sekreten diverser Drüsenzellen führt. Zwei der Wirkstoffe in Kaftrio®, Elexacaftor und Tezacaftor, erhöhen die Menge der CFTR-Proteine auf der Zelloberfläche, während der andere, Ivacaftor, die Aktivität des defekten CFTR-Proteins erhöht [5]. Die Wirkstoffe beheben den genetischen Defekt allerdings nicht, sodass eine lebenslange Einnahme notwendig ist. Die Jahrestherapiekosten pro Patient betragen für Ivacaftor/Tezacaftor/Elexacaftor 158.140 € und für Ivacaftor 100.978 €, sodass Gesamtkosten von 259.118 € resultieren [4].
  • Für das ATMP Nusinersen (Spinraza®) zur Behandlung der 5q-assoziierten spinalen Muskelatrophie (SMA) bei Kindern mit einem frühen Krankheitsbeginn (SMA Typ 1), auch wenn sie noch präsymptomatisch sind [6] [7]. Bei der SMA führen Mutationen im Survival-Motor-Neuron-1(SMN1)-Gen zu einem Mangel an SMN-Protein, der eine irreversible Degeneration der Motoneurone in Hirnstamm und Rückenmark und dadurch eine Muskelatrophie verursacht. Ein zweites Gen, SMN2, ist für die Bildung einer geringen Menge von SMN-Protein verantwortlich. Nusinersen ist ein Antisense-Oligonukleotid, das ein alternatives Spleißen des SMN2-Gens so beeinflusst, dass es funktionell wie das SMN1-Gen wirkt und ein funktionstüchtiges Protein bilden kann. Die vom pU vorgelegten Studien zeigten im Vergleich mit BSC für Nusinersen statistisch signifikante Vorteile hinsichtlich Gesamtüberleben und u.a. in den Morbiditätsendpunkten „Dauerhafte Beatmung“ und „Erreichen motorischer Meilensteine“. Nusinersen wird intrathekal nach vier Aufsättigungsdosen alle vier Monate verabreicht. Die Jahrestherapiekosten pro Patient betragen für Nusinersen im ersten Jahr 566.745 €, in den Folgejahren 261.575 €.
  • Für das ATMP Atidarsagen autotemcel (Libmeldy®) zur Behandlung von metachromatischer Leukodystrophie (MLD), die durch Mutationen in beiden Allelen des Gens für die Arylsulfatase A (ARSA) gekennzeichnet ist, bei Kindern mit im späten Säuglings- oder frühen Kindesalter auftretenden Formen ohne klinische Manifestation der Erkrankung [8]. Da bei Orphan drugs der Zusatznutzen als vorausgesetzt gilt und bis zu einer Umsatzschwelle von 50 Mill. € lediglich das Ausmaß und die Wahrscheinlichkeit des Zusatznutzens beurteilt wird, fand für Atidarsagen autotemcel ein Vergleich mit einer Therapiealternative nicht statt. Die MLD ist eine neurodegenerative Erkrankung mit Anhäufung von sulfatierten Glykosphingolipiden im Nervensystem und in den Nieren. Ursache ist ein Defekt im Stoffwechsel des Cerebrosidsulfats, meist besteht ein Defekt der ARSA [9]. Atidarsagen autotemcel ist eine Gentherapie, die eine mit autologen CD34+ Zellen angereicherte Population hämatopoetischer Stamm- und Vorläuferzellen enthält, die ex vivo unter Verwendung eines lentiviralen Vektors, der das Gen für humane ARSA codiert, transduziert wurden [10]. In einer Geschwisterkinder-Analyse zeigten sich zugunsten von Atidarsagen autotemcel statisch signifikante Effekte hinsichtlich Gesamtüberleben und Bewegungsbeeinträchtigungen. Der Beschluss ist bis zum 1. Juli 2024 befristet, da die finale Auswertung der Zulassungsstudie noch erwartet wird. Die Kosten der einmaligen Behandlung betragen pro Patient für Atidarsagen autotemcel 2.875.000 € [8].

Seit Beginn der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel im Jahr 2011 stellte der G-BA nur drei weitere Male einen erheblichen Zusatznutzen fest: Erstmals im Jahr 2015 für Propranolol (Hemangiol®) zur Behandlung von Säuglingen mit proliferativen infantilen Hämangiomen („Blutschwämmchen“), die eine systemische Therapie erfordern [11]. Ebenfalls im Jahr 2015 sah der G-BA einen erheblichen Zusatznutzen für den Tyrosinkinase-Inhibitor Afatinib (Giotrif®) bei einer Subgruppe von Patienten mit nicht-kleinzelligem Lungenkarzinom und Nachweis einer aktivierenden Epithelial Growth Factor Receptor (EGFR)-Mutation [12]. Dies war das bisher einzige Mal, dass in einem Verfahren in der Onkologie ein erheblicher Zusatznutzen anerkannt wurde. Einen erheblichen Zusatznutzen stellte der G-BA außerdem fest bei der Erstbewertung für Nusinersen (Spinraza®) im Jahr 2017, ebenfalls für Patienten mit SMA Typ 1 [13]. Dieser Beschluss war befristet; unabhängig davon wurde im letzten Jahr eine Nutzenbewertung nach Überschreitung der Grenze von 50 Mio. € notwendig.

 

Fazit

Seit Beginn der Nutzenbewertung neuer Arzneimittel im Jahr 2011 stellte der G-BA in insgesamt 558 Verfahren einen erheblichen Zusatznutzen nur achtmal fest, davon fünfmal im Jahr 2021. Bei Arzneimitteln mit einem erheblichen Zusatznutzen steht der großen Verbesserung des therapierelevanten Nutzens ein extrem hoher Preis gegenüber.

Literatur

  1. https://www.g-ba.de/themen/arzneimittel/arzneimittel-richtlinie-anlagen/nutzenbewertung-35a/zusatznutzen/ (Link zur Quelle)
  2. https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/1013/ (Link zur Quelle)
  3. https://www.g-ba.de/beschluesse/4707/ (Link zur Quelle)
  4. https://www.g-ba.de/beschluesse/4711/ (Link zur Quelle)
  5. https://www.ema.europa.eu/en/documents/overview/kaftrio-epar-medicine-overview_de.pdf
    (Link zur Quelle)
  6. https://www.g-ba.de/beschluesse/4835/ (Link zur Quelle)
  7. Simoens, S., und Huys, I.: Gene Ther. 2017, 24, 539. (Link zur Quelle)
  8. https://www.g-ba.de/beschluesse/5103/ (Link zur Quelle)
  9. https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?Expert=512&lng=DE (Link zur Quelle)
  10. https://www.ema.europa.eu/en/documents/product-information/libmeldy-epar-product-information_de.pdf (Link zur Quelle)
  11. https://www.g-ba.de/presse/pressemitteilungen-meldungen/571/ (Link zur Quelle)
  12. https://www.g-ba.de/downloads/39-261-2375/2015-11-05_AM-TL-XII_Afatinib_2015-05-15-D-163_BAnz.pdf (Link zur Quelle)
  13. https://www.g-ba.de/downloads/39-261-3169/2017-12-21_AM-RL-XII_Nusinersen_D-294_BAnz.pdf (Link zur Quelle)