Herbe Kritik aus den eigenen Reihen erfährt die
deutsche Kardiologie in einem jüngst im Lancet unter dem Titel "The Soft
Science of German Cardiology" publizierten Artikel von W. Dißmann und M.
de Ridder (1; Prof. Dr. W. Dißmann war der streitbare pensionierte Chefarzt
eines großen Berliner Krankenhauses mit kardiologischem Schwerpunkt; er ist
während der Drucklegung des Artikels gestorben. Dr. M. de Ridder war sein
Oberarzt). Überzeugend legen die beiden Autoren dar, daß in diesem Teilgebiet
der Medizin, das etwa 10% der bundesdeutschen Gesundheitsausgaben verschlingt,
gravierende Mängel auszumachen sind: Invasive Diagnose- und Therapiemaßnahmen
haben ein unvertretbares Ausmaß erreicht, die Primärprävention kardiovaskulärer
Erkrankungen existiert praktisch nicht, und im Bereich der Sekundärprävention
besteht eine erhebliche Unter- bzw. Fehlversorgung. Insgesamt sei das
Verhältnis von (Kosten-)Aufwand zu Ertrag in der deutschen Kardiologie mehr als
ungünstig.
Im Zentrum der Kritik steht die Deutsche Gesellschaft
für Kardiologie (DGK), die von den Autoren wegen Unredlichkeit heftig
attackiert wird. Die DGK war im Jahr 2000 vom Sachverständigenrat aufgefordert
worden, zur Frage der Über-, Unter- und Fehlversorgung von Patienten mit
kardiovaskulären Erkrankungen Stellung zu nehmen. In ihrer im März 2001
vorgelegten ausführlichen Antwort (2) behauptet die DGK, daß die Zahl der in
Deutschland durchgeführten diagnostischen Koronarangiographien mit 3900 pro
eine Million Einwohner mehr oder weniger mit der anderer Länder (z.B. Belgien
mit 3600) gleich sei. Die von der DGK für Deutschland angegebene Zahl stammt
jedoch aus dem Jahr 1993! Tatsächlich wurden 1998 in Deutschland 6441
diagnostische Herzkatheter-Untersuchungen pro eine Million Einwohner
durchgeführt, eine Zahl, die der DGK bekannt gewesen sein muß, denn sie war
bereits im "Herzbericht 1999", der im August 2000 erschienen ist,
veröffentlicht worden (3). Was aber ist von einer hochrangigen medizinischen
Fachgesellschaft zu halten, so fragen die Autoren, die bewußt oder mangels
gewissenhafter Prüfung der Daten den Sachverständigenrat und andere politische
Gremien mit derartigen Zahlen, die als wichtige Planungsgrundlage dienen sollen
und enorme Kosten beinhalten, irreführt?
Eine Grafik zeigt (Abb. 1), daß in Deutschland im
Vergleich mit anderen europäischen Ländern die weitaus meisten
Linksherzkatheter-Untersuchungen durchführt werden. Dies beruht weder auf
erhöhter Morbidität und Mortalität ischämischer Herzkrankheiten in Deutschland
noch auf unterschiedlichen Pro-Kopf-Ausgaben für die Gesundheit der miteinander
verglichenen Länder; sie sind vielmehr nach Auffassung der Autoren allein die
Folge einer inadäquaten Indikationsstellung für diese Untersuchung. Die Anzahl
der diagnostischen Herzkatheter-Untersuchungen in Deutschland weicht von der in
den USA nicht wesentlich ab. Während jedoch führende amerikanische Kardiologen
nicht müde werden, den "Overuse" invasiver Verfahren in ihrem Land
anzuprangern, existiert in Deutschland offenbar eine geschlossene Kardiologengemeinschaft,
der Selbstkritik in dieser Frage fremd ist.
Auch bei der perkutanen transluminalen
Koronarangioplastie (PTCA) erweist sich Deutschland 1998 mit 1788 PTCA pro eine
Million Einwohner europaweit als führend. Darüberhinaus fällt auf, daß das Verhältnis
von Koronarangiographien zu therapeutischen Konsequenzen (PTCA mit oder ohne
Stent, Bypass-OP) zwar zwischen den Ländern deutlich differiert, in Deutschland
jedoch am ungünstigsten ausfällt. Hier folgt nicht einmal jeder zweiten
Untersuchung eine Revaskularisationsmaßnahme (s. Abb. 1).
In ihrem Bericht behauptet die DGK weiterhin, daß die
Indikation zur PTCA in 80% aller Fälle angemessen sei. Zugrunde gelegt ist
dabei das Register der Arbeitsgemeinschaft Leitender Kardiologischer
Krankenhausärzte (ALKK), in dem zwischen 1992 und 1999 insgesamt 192710 PTCA
erfaßt sind. Diese Zahl repräsentiert jedoch weniger als 25% aller PTCA in
diesem Zeitraum und berücksichtigt nur solche Kliniken, die bereit waren,
externe Kontrollen zuzulassen und einen beträchtlichen bürokratischen Aufwand
auf sich zu nehmen, so daß der Anteil angemessen indizierter PTCA
wahrscheinlich deutlich niedriger anzusetzen ist.
Nun soll auch noch bei Patienten mit
Rhythmusstörungen und Synkopen der Koronarstatus definiert werden. Damit stellt
sich die DKG in Widerspruch zu den Empfehlungen des American College of
Cardiology (ACC), der American Heart Association (AHA) und der European Society
of Cardiology (ESC) und ihrer "Task Force on Syncope", die besagen,
daß die Koronarangiographie definitiv nicht die Methode der Wahl ist, um diese
Symptome abzuklären (4). Daß die DGK sich sogar dahin versteigt,
Linksherzkatheter-Untersuchungen ohne einen interventionsbedürftigen Befund für
sinnvoll zu erachten, weil dadurch Patienten beruhigt und weitere
Krankenhausaufenthalte vermieden werden könnten, veranlaßt Dißmann und de
Ridder schließlich zu der süffisanten Frage: "Beabsichtigt die DGK, die
diagnostische Angiographie in Deutschland zu einem Screening-Verfahren zu
machen?"
Dem "Overuse" invasiver Verfahren stehen
gravierende Defizite in der Behandlung kardialer Risikofaktoren gegenüber, wie
die EuroASPIRE-Studie I/II belegt (5). Das Abschneiden Deutschlands bewertet
der Leiter der deutschen Sektion, der Münsteraner Epidemiolge U. Keil, als
"PISA der deutschen Kardiologie". EuroASPIRE I/II ergab
beispielsweise, daß Deutschland, gemessen am nationalen Pro-Kopf-Aufkommen für
die Gesundheit, in der Sekundärprävention von Hypertonie und
Hypercholesterinämie im Vergleich mit acht europäischen Ländern die
schlechtesten Ergebnisse hat. Ähnliches gilt für die sekundärpräventive
Verordnung von ACE-Hemmern bei Patienten nach Herzinfarkt und eingeschränkter
linksventrikulärer Funktion. Eine der wenigen deutschen Studien zu dieser
Problematik belegt, daß nur 50% der Patienten, die für die Behandlung mit einem
ACE-Hemmer in Frage kamen, diesen auch erhielten, und nur 11% der Patienten
nahmen mehr als 50% der anzustrebenden Richtdosis ein.
Schließlich weisen die Autoren auf die unvertretbar lange
Krankenhaus-Verweildauer deutscher Herzinfarktpatienten hin. Sie beträgt nach
einer deutschen Studie (1996/1998), die 14598 Patienten in 217 kommunalen
Krankenhäusern umfaßte, durchschnittlich immer noch 18 Tage, was internationale
Standards weit überschreitet (6). Auch der übliche drei- bis vierwöchige
Aufenthalt in einer Rehabilitationsklinik nach einem Herzinfarkt scheint in
keinem günstigen Verhältnis zu seinem Nutzen zu stehen, wenn eines der
Hauptziele der Rehabilitation, die Senkung des Cholesterinspiegels mittels
Statinen, bei allzu vielen Patienten verfehlt wird. 69% der Patienten, so das
Ergebnis einer Untersuchung, wurden mit einem Statin nach Rehabilitation
entlassen, doch 12 Monate später hatten nur 50% von ihnen einen
Cholesterinspiegel unter 5,2 mmol/l. Die Autorin des zugehörigen Editorials
wird zitiert: "Sind die Kosten eines dreiwöchigen stationären
Rehabilitationsaufenthaltes wirklich zu rechtfertigen? Ist dies ein kluger
Umgang mit Ressourcen?"
Zusammenfassend kommen die Autoren zu dem Schluß, daß
die Kardiologie beispielhaft illustriert, welch große Kluft in Deutschland
zwischen evidenzbasiertem Wissen und der Praxis der Medizin existiert. Eine
Mischung aus schwindender Professionalität, falsch gesetzten Prioritäten,
zunehmender Unredlichkeit und oftmals schrankenlosem Eigeninteresse der
Ärzteschaft sind nach Meinung der Autoren die Hauptursache der Misere.
Umsatzorientierte Lobbyisten setzen mehr und mehr den professionellen Anspruch
der Ärzteschaft außer Kraft. Sorgfältige Anamnesen und gewissenhafte klinische
Befunderhebung treten zunehmend in den Hintergrund; zudem werden sie schlechter
vergütet als technische Leistungen. Die Gesundheitspolitik hat sich als unfähig
erwiesen, Richtlinien und Strukturen vorzugeben und sich aus dem Haifischbecken
der Interessengruppen weitgehend zurückgezogen. Die Medien nehmen diese
Fehlentwicklung nur unzureichend wahr.
Diese Misere zu überwinden bedarf eines radikalen
Umdenkens, in dessen Zentrum wieder das aus dem Blick geratene Interesse der
Patienten zu rücken hat. Um den Interessen der Patienten gerecht zu werden,
fordern die Autoren, jenseits des gut gemeinten Rufs nach Qualitätsmanagement
und Leitlinien, die Installation eines "Zentralnervensystems".
Gemeint ist ein unabhängiges Institut für Medizin, das den aktuellen
medizinischen Wissensstand fortlaufend evaluiert und verfügbar macht und zudem
autorisiert ist, Prioritäten in Gesundheitspolitik und Medizin verbindlich
vorzugeben. Außerden sollte es befugt sein, das Einhalten unabhängig erstellter
evidenzbasierter Leitlinien nicht nur zu kontrollieren, sondern gegebenenfalls
auch einzuschreiten, wenn sie nicht eingehalten werden.
Die koronare Herzkrankheit ist durch Prävention weitgehend
zu beeinflussen. Doch Primärprävention hätte nur eine Chance, wenn eine kluge
Gesundheitspolitik existierte, die - im Falle kardiovaskulärer Krankheiten -
sich auf redliche und weitsichtige Kardiologen verlassen könnte. Schon vor mehr
als 150 Jahren bemerkte hierzu Rudolf Virchow: "Soll die Medicin daher
ihre große Aufgabe wirklich erfüllen, so muß sie in das große politische und
sociale Leben eingreifen" (7).
Literatur
-
Dißmann,
W., und de Ridder, M.: Lancet 2002, 359, 2027.
-
www.dgkardio.de
-
Bruckenberger,
E.: Herzbericht 1999 mit Transplantationschirurgie. Hannover, 15. August 2000. http://www.bruckenberger.de
-
Brignole,
M., et al. (Task Force on Syncope, European Society of Cardiology): Eur. Heart
J. 2001, 22, 1256.
-
EUROASPIRE
I and II group: Lancet 2001, 357, 995.
-
Arntz,
H.R.: Cardio News 2001, 7-8, 7.
-
Virchow,
R.: Die Einheitsbestrebungen in der wissenschaftlichen Medizin. G. Reimer,
Berlin, 1849, 48.
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