Im Arzneiverordnungs-Report 2006 (1) sind 21
Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen aufgeführt (Tab. 1), von denen allerdings
nur 11 wirklich innovativ sind, d.h. ein neuartiges Wirkprinzip mit klinischer
Relevanz haben (Bewertung A nach Fricke). Wenn man diejenigen Arzneimittel noch
hinzuzählt, die zwar nicht innovativ, aber verbessert sind bezüglich Pharmakodynamik
und/oder Pharmakokinetik (Bewertung B nach Fricke), so sind 14 (67%) der neuen
Arzneimittel „fortschrittlich”. Im Vorjahr waren es nur 55%. Aber ist der so
definierte Fortschritt wirklich ein Fortschritt der Pharmakotherapie, der sich
auch praktisch auswirkt? Ist die hier gewählte Definition von Fortschritt nicht
zu theoretisch-pharmakologisch? Muss ein als „fortschrittlich” bezeichnetes
Medikament nicht verglichen worden sein mit den Medikamenten, die schon im
Handel sind und zwar nach Wirkung, unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW)
und Tagestherapiekosten? Wenn man sich daraufhin die Arzneimittel der
Bewertungsgruppen A und B ansieht, ist bei vielen kein für die Praxis
bedeutsamer Fortschritt zu erkennen, obwohl es sich um „innovative Strukturen”
handelt. Die neuen Substanzen sind bezüglich ihrer Wirkung und UAW fast nie mit
schon vorhandenen Medikamenten direkt verglichen worden. Bei indirektem
Vergleich sind aber gleich wirksame Dosierungen der neuen Präparate meist viel
teurer als die älteren Vergleichspräparate (z.B. Anagrelid, Palonosetron; s.
Tab. 1). Das ist kein Fortschritt.
In einigen Fällen ist zusätzlich das UAW-Profil der
innovativen Substanzen bedenklich oder nicht ausreichend untersucht. So haben
wir uns mehrfach sehr zurückhaltend zur Pharmakotherapie des
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndroms mit Ritalin geäußert (7). Nun
ist zusätzlich für die selbe Indikation Atomoxetin (Strattera®)
zugelassen worden, das zwar ein geringeres Missbrauchspotenzial haben soll,
aber zu bedrohlichen Suizidideen führen kann. Zudem wird es in Abhängigkeit von
der CYP2D6-Aktivität von einigen Patienten deutlich verlangsamt abgebaut.
Dadurch können gefährlich hohe Plasmaspiegel resultieren. Obwohl es also
bezüglich der UAW unübersichtlicher und auch noch teurer ist (s. Tab. 1) als
das umstrittene Ritalin, ist Atomoxetin die „innovative Struktur”, die am
häufigsten von allen neuen Medikamenten (131900 Rezepte) und mit dem höchsten
Umsatz (11,9 Mio. EUR) verordnet worden ist.
Ebenso verwundert die Verordnungshäufigkeit von
Anagrelid (Xagrid®; 2) zur Behandlung der essentiellen
Thrombozythämie. Trotz des fehlenden Zusatznutzens im Vergleich zu Hydroxyurea
(Litalir®) plus ASS und des vergleichsweise hohen Preises (DDD:
22,16 EUR; DDD Litalir®: 5,89 EUR, s. Tab. 1), hat auch Anagrelid
einen erstaunlich guten Start gehabt: Es wurde bereits im Jahr der Zulassung
18800 mal verordnet mit einem Umsatz von 10,4 Mio. EUR (Litalir®
65000 Verordnungen, 9,9 Mio. EUR Umsatz). Auf dem Pharmamarkt wirken sich also
hohe Preise nicht immer ungünstig auf den Umsatz aus. Die Methoden der Werbung
sind offenbar wirksamer als die rationale Analyse des Preis-Leistungs-Verhältnisses.
Erwarten die Firmen von hohen Preisen einer Substanz sogar einen Werbeeffekt
(vgl. 10)?
Ausnahmen bestätigen die Regel. Nicht immer werden
neue Medikamente mit verbesserten Eigenschaften teurer verkauft. Ciclesonid
(Alvesco®) ist ein neues inhalatives Glukokortikoid mit längerer
Halbwertszeit. Es gehört also wegen günstigerer Pharmakokinetik in die Gruppe B
und kostet nicht mehr (DDD: 0,62 EUR) als die vergleichbaren Glukokortikoide
Beclometason (DDD: 0,73 EUR) oder Fluticason (DDD: 1,46 EUR). Etwas billiger
ist nur Budesonid (DDD: 0,57 EUR). Auch Ciclesonid hatte mit 110000 Verordnungen
und einem Umsatz von 6,0 Mio. EUR im Jahr der Einführung einen guten Start.
Innovative Strukturen sind auch Bevacizumab und
Omalizumab. Bevacizumab ist ein rekombinanter, humanisierter Antikörper gegen
den Vascular Endothelial Growth Factor und damit ein interessantes neues
Prinzip der Krebstherapie, das auch zur Behandlung der feuchten Makuladegeneration
eingesetzt werden kann (8). Die Ergebnisse in der Praxis sind allerdings noch
nicht überzeugend. Wir haben uns bei der Einführung zurückhaltend und kritisch
zum Stellenwert in der Onkologie geäußert (3). Auch Omalizumab ist ein
monoklonaler humanisierter Antikörper. Er ist gegen IgE gerichtet, das in der
Pathogenese des allergischen Asthma bronchiale eine zentrale Rolle spielt. Es
wäre eine sehr zielgenaue Therapie, wenn es gelänge, IgE zu inaktivieren und so
den Krankheitsprozess des allergischen Asthmas zu unterbrechen. Leider sind
auch hier die Ergebnisse noch nicht überzeugend. Darüber hinaus ist Omalizumab
für die breite Anwendung viel zu teuer.
Für seltene Indikationen (Nitisinon gegen angeborene
Tyrosinämie bzw. Natriumoxybat gegen Kataplexie bei Narkolepsie), gibt es
spezielle Innovationen, die nicht oft gebraucht und keinen großen Umsatz machen
werden. Aber für die Betroffenen sind diese Stoffe eine existentielle und
innovative Hilfe. Sie wurden von der EMEA als Orphan Drugs
(Waisenkinder-Medikamente, für die sich keiner interessiert) für alle
Mitgliedsländer zentral zugelassen.
Sieben Wirkstoffe wurden in die Gruppe C
eingegliedert (keine oder nur geringe Unterschiede im Vergleich zu bereits
eingeführten Präparaten). Ein Beispiel ist Darifenacin, ein Anticholinergikum
zur Behandlung der Dranginkontinenz ohne erkennbaren zusätzlichen Nutzen.
Anders als die meisten Analoga ist es allerdings nicht teurer als viele
Vergleichspräparate (DDD: 1,58 EUR). Auch Darifenacin hatte mit 65100
Verordnungen und einem Umsatz von 7,2 Mio. EUR im Jahr der Zulassung eine gute
Resonanz. In Tab. 1 finden sich aber drei Beispiele für Analogpräparate, die
deutlich teurer sind als die Vergleichssubstanzen, ohne dass sie einen
zusätzlichen Nutzen erkennen lassen: Paricalcitrol, Palonosetron und Rasagilin.
Die unbegründet häufige Verordnung teurer
Analogpräparate haben wir bereits im Dezember 2006 dargestellt an Hand der
Verordnungszahlen zu Lasten der Barmer Ersatzkasse in Berlin und der Zahlen des
Arzneiverordnungs-Reports 2006 (9). Wenn teure Analogpräparate bei der Verordnung
vermieden würden, könnten 1,6 Milliarden EUR/Jahr gespart werden. Die Industrie
verdient gut an den Analogpräparaten und nutzt ihren Einfluss auf allen Ebenen.
Der Arzneiverordnungs-Report nennt eine ganze Reihe von Möglichkeiten, den
Einfluss der Industrie zu minimieren: z.B.:
·
Unabhängige Information ohne Werbung
·
Verbot von Umsatzbeteiligungen
für Ärzte
·
Keine Ärztemuster
·
Positivliste
·
Einheitliche Preisgestaltung für
Apotheken in Krankenhaus und Ambulanz
·
Einführung einer prozentualen
Zuzahlung für Patienten mit Obergrenze, aber ohne Mindestbetrag
·
Informationen der Verbraucher
über Arzneimittelleistungen und -preise.
Fazit: 14
neue Arzneimittel des Jahres 2005 haben entweder eine innovative Struktur mit
klinischer Relevanz oder sind verbessert bezüglich Pharmakokinetik oder
-dynamik. Sieben neue Medikamente sind Analogpräparate. Bei allen drei Gruppen
sind die Preissteigerungen gegenüber Vergleichspräparaten erheblich, ohne dass
in der Regel ein klinisch bedeutsamer Zusatznutzen der Innovationen erwartet
werden kann. Medizinischer Fortschritt ist nur in einigen Fällen zu erkennen.
Die Ausgaben für Arzneimittel dürften also nicht steigen.
Literatur
-
Schwabe, U., und Paffrath, D.:
Arzneiverordnungs-Report 2006. Springer, Berlin, Heidelberg, New York.
-
AMB 2005, 39,
68.
-
AMB 2005, 39, 1.
-
AMB 2005, 39,
61.
-
AMB 2005, 39,
12.
-
AMB 2005, 39,
62a.
-
AMB 2001, 35, 12
und 88.
-
AMB 2006, 40, 91.
-
AMB 2006, 40, 90.
- Busch, W.: 1884, Maler Klecksel. Erstes Kapitel: Mit
scharfem Blick, nach Kennerweise, seh’ ich zunächst mal nach dem Preise. Und
bei genauerer Betrachtung, steigt mit dem Preise auch die Achtung.
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