Unter „Orphan Medicinal Products” (OMP)
bzw. ”Orphan drugs” versteht
man Arzneimittel, die zur Behandlung seltener Krankheiten eingesetzt werden.
Als selten gilt innerhalb der EU eine Krankheit, wenn sie nicht mehr als fünf
pro 10 000 EU-Einwohner betrifft. Durch Anwendung der Definition auf
Bürger der EU können auch weltweit häufige Erkrankungen, wie z.B.
Tropenkrankheiten, für die EU-Behörden als selten gelten.
Nach Schätzungen der europäischen
Arzneimittel-Agentur (EMEA) sind 5 000-8 000 aller bekannten Krankheiten
als selten anzusehen (1). Wöchentlich kommen fünf neue hinzu, wobei eine immer
weitere Unterteilung bereits bekannter Krankheiten auch zu diesem Zuwachs
führt. Ein Beispiel hierfür sind viele Tumorerkrankungen.
80% der seltenen Krankheiten sind
genetisch bedingt. Sehr häufig sind Kinder betroffen. 25% der Patienten müssen
mehrere Jahre auf eine genaue Diagnose warten, und sehr häufig besteht hinsichtlich
der Krankheit regional keine medizinische Erfahrung. Eine Übersicht über die
als selten deklarierten Krankheiten erhält man auf der sehr lesenswerten
Website: www.orpha.net. Auf dieser Internetseite kann man sich auch über
Krankheitsdetails, Diagnoseverfahren, Spezialeinrichtungen und die weltweit
laufenden Studien zu den einzelnen Krankheiten informieren.
Klassischerweise reicht das Spektrum seltener Krankheiten von
·
Krankheiten mit
geringer Inzidenz und kurzem Überleben (z.B. schweres kombiniertes
Immundefizit-Syndrom).
·
Krankheiten mit
geringer Inzidenz und langem Überleben (Zystische Fibrose,
Duchenne-Muskeldystrophie).
·
Krankheiten mit
relativ hoher Inzidenz und sehr kurzem Überleben (Pankreaskarzinom, Glioblastom).
Medikamente gegen seltene Krankheiten
wurden in der Vergangenheit gar nicht oder nur sehr selten zur Marktreife entwickelt.
Einerseits, weil wegen geringer Patientenzahlen klinische Studien kaum
realisiert werden konnten und andererseits, weil der Markt so klein ist, dass
sich die Entwicklungskosten für Arzneimittelhersteller nicht lohnen. Um die
notwendige Entwicklung solcher Arzneimittel für die Hersteller interessanter zu
machen, kann einem Wirkstoff von der EMEA oder der amerikanischen
Arzneimittelbehörde (FDA) der „Orphan-Drug-Status” erteilt werden. Dies
garantiert dem Unternehmen ein zehnjähriges Markt-Exklusivrecht innerhalb der
EU ab Marktzulassung, die Befreiung oder Ermäßigung von Gebühren beim
Zulassungsverfahren und eine beschleunigte Bearbeitung des Zulassungsantrags.
Die Bedingungen hierfür wurden 1999 in der EU geregelt (Verordnung 141/2000).
Bei der EMEA wurde ein Ausschuss für Arzneimittel für seltene Erkrankungen
gegründet (COMP; 2). Die Arzneimittelhersteller sollen ihre Pläne diesem
Ausschuss vorlegen. Alle bislang eingereichten und ganz überwiegend positiv
bewerteten Anträge (über 450) sind auf der Website der EMEA einzusehen (3).
COMP kann die Hersteller auch dabei unterstützen, einen Prüfplan zu erstellen
und EU-Gelder für die Entwicklung beisteuern. Der Antrag auf Zulassung der
Substanz wird dann bei der CHMP (Committee for Medicinal Products for Human
Use) eingereicht, wo innerhalb von 90 Tagen mit 2/3-Mehrheit darüber entschieden
werden soll. Der endgültige Entscheid erfolgt dann nach einer weiteren
Stellungnahme durch die EMEA innerhalb von 30 Tagen von der Europäischen
Kommission. Mit Stand vom April 2008 wurden in Europa 46 Arzneimittel über
diesen Weg als Orphan drugs zugelassen (Auswahl in Tab.1). Aus der Liste wird
ersichtlich, dass die Mehrzahl der unter erleichterten Bedingungen zugelassenen
Orphan drugs in der onkologischen Therapie eingesetzt werden.
Die Preise für diese Arzneimittel sind
teilweise exorbitant. Obwohl Arzneispezialitäten in Österreich - anders als in
Deutschland - einer gesetzlichen Preisregelung unterliegen, werden die Preise
von Orphan drugs von den Pharmaunternehmen bestimmt. Eine Dauertherapie von
Morbus Fabry mit Fabrazyme® kostet in Deutschland und Österreich ca.
200 000 EUR pro Patient (70 kg) und Jahr. Anhand von Zahlen der
österreichischen Apothekerkammer lässt sich feststellen, dass im Jahr 2006 nur
sieben Personen in Österreich mit Fabrazyme® behandelt wurden (nach
4). Trotzdem kann ein Arzneimittel durch seinen hohen Preis für den Hersteller
europaweit durchaus rentabel sein. So wurde Imatinib (Glivec®)
zunächst für eine sehr begrenzte Indikation (chronische myeloische Leukämie,
CML) zugelassen („Nische”). Heute ist Imatinib gleich für mehrere seltene
Indikationen zugelassen (Philadelphia-Chromosom-positive akute lymphatische Leukämie,
Erwachsene mit myelodysplastischen oder myeloproliferativen Erkrankungen und
speziellen molekulargenetischen Veränderungen, Erwachsene mit malignen
gastrointestinalen Stromatumoren oder nicht resezierbarem Dermatofibrosarcoma
protuberans). Es hat sich mittlerweile zu einem „Orphan blockbuster” entwickelt.
In Deutschland steht Glivec® an 8. Stelle der umsatzstärksten
Medikamente (203 Mio. EUR 2007; 5). Ähnlich wie Glivec® sind ca. 10%
aller Orphan drugs zu Blockbustern (Definition: > 1 Mrd. US$ Jahresumsatz) geworden.
Würde man die seltenen Indikationen in einer Gruppe zusammenfassen, fielen
möglicherweise die Kriterien für ein Orphan drug und damit die
Marktexklusivrechte weg. Warum geschieht das nicht? Orphan drugs werden nicht
nur bei der zugelassenen Indikation eingesetzt, sondern häufig auch Off label.
Das ist sicher lukrativ für die Hersteller, sollte aber von den Krankenkassen
kontrolliert werden. Orphan drugs sind mittlerweile nicht nur eine Chance für kleine
Arzneimittelhersteller. Da die großen Hersteller in den letzten Jahren enorme
Schwierigkeiten hatten, neue Wirkstoffe zu entwickeln und zugelassen zu
bekommen, konzentrieren sie sich ebenfalls immer mehr auf den Markt mit teuren
Nischenprodukten (6).
Ein weiteres Beispiel für Orphan drugs,
die eine Ausweitung der Indikation und des Marktes erfahren haben, sind
Arzneimittel gegen pulmonale Hypertonie. Für die seltene Indikation des
primären Lungenhochdrucks gibt es bislang vier Orphan drugs (Bosentan = Tracleer®,
Iloprost = Ventavis®, Sildenafil = Revatio®, Sitaxentan =
Thelin®), die aber mittlerweile auch für alle anderen Formen der
pulmonalen Hypertonie eingesetzt werden (Off label). Man sieht an diesem Beispiel,
dass ein Exklusivitätsrecht auf dem Markt nicht vor Konkurrenz schützt.
Fazit: Orphan drugs sind Medikamente gegen sehr seltene
Krankheiten mit einem vereinfachten Zulassungsverfahren. Mit dieser Regelung
wollen die Zulassungsbehörden die Entwicklung solcher Arzneimittel fördern, die
wegen geringer Patientenzahlen und dadurch zu geringer Nachfrage niemals in den
Handel kämen. Mittlerweile hat sich der Markt mit Orphan drugs aber stark
entwickelt, und es gibt unter ihnen nicht wenige Blockbuster. Durch zugelassene
oder nicht zugelassene (Off label) Ausweitung der Indikationen ist der Markt
mit Orphan drugs mittlerweile auch für die großen Arzneimittelhersteller lukrativ
geworden, weil es - zumindest in Deutschland - keine Möglichkeit gibt, überprüfend
und regulierend in die Preisgestaltung einzugreifen (ähnlich wie bei
Finanzprodukten in den USA).
Literatur
-
http://www.emea.europa.eu/pdfs/human/comp/29007207en.pdf

-
http://ec.europa.eu/health/ph_threats/non_com/rare_6_de.print.htm

-
http://www.emea.europa.eu/htms/human/orphans/opinions.htm

-
Zenz, S.: Diplomarbeit IMC
Fachhochschule Krems, 2008.
-
Schwabe, U., und
Paffrath, D.: Arzneiverordnungs-Report 2008. Springer, Berlin, Heidelberg, New
York.
-
Owens, J.: Nat. Rev. Drug Discov.
2007, 6, 99
. Erratum: Nat. Rev. Drug Discov. 2007, 6,
249.
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