Zusamenfassung: Die Bewertung von Nutzen und Risiken der „lang erwarteten” oralen Wirkstoffe
zur Prophylaxe der schubförmig-remittierenden Multiplen Sklerose fällt
ambivalent aus. Zwar wurden die Schübe (primärer Endpunkt) unter Fingolimod und
Cladribin im Vergleich mit Plazebo bzw. Interferon beta-1a und die Zahl der
ZNS-Läsionen im MRI im Beobachtungszeitraum von 1-2 Jahren vermindert. Ob
dieser Effekt jedoch anhält und ob die körperlichen Behinderungen unter dieser
Therapie spürbar geringer fortschreiten als unter Plazebo, geht aus den drei neuen
Studien nicht hervor. Langzeituntersuchungen, z.B. in Registern, sind daher
unbedingt notwendig. Dem möglichen Nutzen stehen teils gravierende UAW
gegenüber, die wahrscheinlich zum Teil Folgen des Eingriffs in das Immunsystem
sind: Infektionen, Tumore, Hepatopathie und kardiovaskuläre Störungen. Es ist
also Vorsicht geboten. Die Patienten müssen über die Risiken sehr genau
aufgeklärt und klinisch gut beobachtet werden. Wegen der starken Einflussnahme
der Pharmahersteller erfüllen die drei neuen Publikationen aus unserer Sicht nicht
mehr die Kriterien unabhängiger Studien.
Wie eine große Publikation heutzutage geplant,
durchgeführt, Evidenz geschaffen und von der Industrie nicht nur auf klinische
Forschung, sondern auch auf die Praxis der Medizin Einfluss genommen wird, zeigen
drei jüngst im N. Engl. J. Med. publizierte Studien zur - laut Editorial „lang
erwarteten” (1) - oralen Dauertherapie der schubförmig-remittierenden Form der
Multiplen Sklerose (Relapsing-remitting MS = RRMS).
Im sogenannten CLARITY-Trial wurde die Wirkung des
oralen Zytostatikums Cladribin (Leustatin®, Litak®) vs.
Plazebo bei RRMS getestet (2). Im Methodikteil ist zu lesen, dass die
Datenauswertung vom Sponsor (Merck Serono) vorgenommen und das
Manuskript von einer „Medical-writing-services agency” erstellt wurde. Die zahlreichen
Autoren waren offenbar im Wesentlichen mit dem Sammeln von Daten beauftragt.
Immerhin wurde „der erste Entwurf des Manuskripts vom akademischen Erstautor
mitverfasst”. Vier von elf Autoren sind im übrigen Firmenangehörige von Merck
Serono. Der Erstautor bezieht von sieben verschiedenen Firmen Beraterhonorare, darunter
auch Merck Serono. Von einer unabhängigen Studie kann also nicht die Rede sein.
In CLARITY wurden an 155 Zentren in 32 Ländern
insgesamt 1326 Patienten (mittleres Alter 38 Jahre, 67% Frauen) mit RRMS
eingeschlossen. Die
Krankheitsdauer betrug knapp neun Jahre. Die
Patienten sollten mindestens einen Schub im Jahr zuvor erlitten und maximal 5,5
Punkte auf der Expanded Disability Status Scale von Kurtzke (EDSS; s. Tab.1)
haben. Der mittlere EDSS-Score betrug 2,9.
Ausgeschlossen wurden u.a. Patienten mit auffälligen
Blutbildveränderungen (Thrombozytopenie, Neutropenie), weil Cladribin
bekannterweise solche Schäden verursachen kann. Die Patienten wurden in einem
dreiarmigen Design zwei Jahre lang mit Cladribin oral in zwei Dosierungen oder mit
Plazebo behandelt. Die kumulativen Dosen Cladribin pro Patient während der zwei
Jahre betrugen 3,5 mg/kg oder 5,25 mg/kg KG (bei 80 kg KG: 280 mg bzw. 560 mg).
Cladribin (in einer oder zwei 10 mg-Tabletten, einmal täglich) bzw. Plazebo wurde in kurzen Behandlungszyklen (die ersten
vier oder fünf Tage einer 28-tägigen Periode) verabreicht. Die
komplizierten Behandlungsschemata sind der Fig. 1 des „Supplemetary Appendix”
der Publikation einzusehen). Primärer Endpunkt war die Häufigkeit von Schüben
der MS nach zwei Jahren (96 Wochen). Die Ergebnisse sind in Tab. 2 dargestellt.
In den beiden anderen Studien wurde das
immunsuppressiv wirkende Fingolimod (FTY720), ein synthetisches Analogon des
natürlichen Myriocin aus Pilzen, von Novartis als orale Rezidivprophylaxe bei
RRMS getestet und zwar in der FREEDOMS-Studie (3) gegen Plazebo und in der
TRANSFORMS-Studie (4) gegen Interferon beta-1a i.m. Interessanterweise ist der
Erstautor von FREEDOMS auch der Letztautor von TRANSFORMS. Dieser Autor gibt im
Übrigen nicht weniger als 19 Firmen an, von denen er Beraterhonorare bezieht. In
beiden Studien sind wiederum vier Autoren Firmenangehörige von Novartis, und in
beiden Studien wurden die Daten ebenfalls exklusiv vom Studiensponsor ausgewertet.
FREEDOMS und TRANSFORMS sind nahezu identisch in Design und Präsentation, sodass
man auch hier vermutet, dass sie von einer „Ghost-writing-Agentur” verfasst
wurden.
Auch in den beiden Fingolimod-Studien wurden Patienten
mit RRMS (18-55 Jahre alt, im Mittel 37 Jahre; 69% Frauen) und einem Wert
< 5 auf der Kurtzke-Skala (im Mittel 2,3) behandelt. Die Patienten
mussten 1-2 dokumentierte Schübe der MS innerhalb des vergangenen Jahres oder ≥
2 Schübe in den vergangenen zwei Jahren erlitten haben. Die klinischen und
demografischen Daten sind in allen drei Studien recht ähnlich.
Die Randomisierung erfolgte jeweils in drei Gruppen:
In FREEDOMS Fingolimod oral 0,5 mg oder 1,25 mg oder Plazebo einmal täglich und
in TRANSFORMS Fingolimod oral 0,5 mg oder 1,25 mg einmal täglich oder 30 µg
Interferon beta-1a (Avonex®) i.m. einmal wöchentlich im
Doppeltblind-Doppeltdummy-Design.
Die Behandlung und Nachbeobachtung erfolgte in
FREEDOMS zwei Jahre lang, in TRANSFORMS ein Jahr lang. Der primäre Endpunkt war
in beiden Studien die jährliche Schubrate, sekundärer Endpunkt u.a. die Zeit
bis zur Progression des Behinderungsgrades und die Zahl bestätigter MS-Läsionen
im ZNS (MRI). Die Ergebnisse beider Fingolimod-Studien sind in Tab. 2
dargestellt.
Ergebnisse:
Beide oral gegebenen Substanzen (Cladribin und
Fingolimod) reduzierten signifikant die jährliche Schubrate gegenüber der jeweiligen
Vergleichsgruppe (primärer Endpunkt). Auch bei den sekundären Endpunkten
(ZNS-Läsionen, Veränderungen im EDSS-Score) zeigen sich Vorteile. Sie sind aber
in allen drei Studien hinsichtlich fortschreitender Behinderungen sehr diskret.
Der maximale Vorteil von Fingolimod vs. Plazebo betrug in FREEDOMS nach einer
Behandlung von zwei Jahren 0,16 Punkte auf der EDSS-Skala. Das entspricht
weniger als 2% des Gesamt-Scores. Außerdem war er inkonsistent (FREEDOMS und
CLARITY positiv, TRANSFORMS negativ).
Unerwünschte Wirkungen (UAW): Cladribin führte in den zwei Jahren der Beobachtung
bei 82,4% und Plazebo bei 73,3% zu UAW (Number needed to harm = NNH: 11). Bei
8,4% bzw. 9% wurden diese UAW als schwerwiegend beurteilt (Plazebo: 6,4%).
Besonders auffallend waren Veränderungen im Blutbild. Lymphozytopenien traten
bei jedem vierten Patienten auf (26,7% vs. Plazebo 1,8%) und drei Patienten
erlitten eine schwere Neutropenie. Bei einem dieser Patienten exazerbierte eine
Tuberkulose. Weitere Infektionen traten bei 48% unter Verum und bei 42,5% unter
Plazebo auf. Darunter waren 20 Infektionen mit Herpes zoster und drei mit
Varizellen, alle unter Cladribin. Neue Tumore wurden bei 1,4% bzw. 0,9%
entdeckt (Plazebo: 0), darunter Leiomyome, Melanome, Pankreas-, Zervix- und
Ovarialkarzinome.
Unter Fingolimod kam es in FREEDOMS vermehrt zu
Bronchitiden und Pneumonien (10% vs. 6%), Anstieg der Leberenzyme (10,5% vs.
7,4%), dosisabhängige Blutbildveränderungen (11,7% bzw. 6,3% vs. 0,7% unter
Plazebo), Hypertonie (6,2% vs. 3,8%) und Bradykardie (2,6% vs. 0,7%) sowie
feuchte Makulaödeme (1,6% vs. 0%).
Im einjährigen Beobachtungszeitraum von TRANSFORMS kam
es unter Fingolimod gegenüber Interferon, insbesondere in der Hochdosis-Gruppe,
zu deutlich mehr schwerwiegenden Ereignissen (10,7% bzw. 7% vs. 5,8% mit
Interferon), darunter zu zwei Todesfällen unter hoch dosiertem Fingolimod
(Interferon: 0). Ein Patient starb an einer fulminanten Varizella-Zoster-Infektion
und einer in Folge einer Herpes-simplex-Enzephalitis. Insgesamt traten in der
Hochdosis-Gruppe Fingolimod bei 5,5% der Patienten Herpes-Infektionen auf, in
der Gruppe mit 0,5 mg Fingolimod nur bei 2,1% und in der Interferon-Gruppe bei
2,8%. In der Hochdosis-Gruppe wurden auch mehr Melanome diagnostiziert als
unter Interferon (10% vs. 5,6%).
Die Zahl der Leukozyten sank unter Fingolimod bei 75%
der Patienten signifikant ab, und bei 7% fand sich ein mehr als dreifacher Anstieg
der Transaminasen (Interferon: 2%). Zwei Patienten aus der Fingolimod-Gruppe
starben nach Beendigung der Studie an Aspirationspneumonie bzw. an Brustkrebs. Interferon
führte dagegen häufiger zu influenzaartigen Beschwerden (36,9% vs. 3,5%),
Myalgien (10,2% vs. 3,3%), Arthralgien (5,6% vs. 3,4%) und Depressionen (7,4%
vs. 4,6%).
Literatur
-
Carroll, W.M.: N.
Engl. J. Med. 2010, 362, 456.

-
Giovannoni, G., et al.
(CLARITY = Cladribine tablets treating multiple sclerosis orally): N. Engl. J.
Med. 2010, 362, 416.

-
Kappos, L., et al.
(FREEDOMS = FTY720 Research Evaluating Effects of Daily
Oral therapy in Multiple Sclerosis): N. Engl.
J. Med. 2010, 362, 387.

-
Cohen, J.A., et al. (TRANSFORMS = TRial Assessing
iNjectable interferon verSus FTY720 Oral in Relapsing-remitting
Multiple Sclerosis): N. Engl. J. Med. 2010, 362, 402.

-
Kurtzke,
J.F.: Neurology 1983, 33, 1444.

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