Zusammenfassung: Fehler bei der Arzneimitteltherapie
gehören zu den wichtigsten Qualitätsmängeln bei stationärer Krankenversorgung.
Sie treten besonders an Schnittstellen der Versorgung auf, wo naturgemäß viele
Informationen übergeben und bewertet werden müssen, z.B. Schichtwechsel des
Personals oder Verlegungen und Entlassungen von Patienten. Außerdem sind sie
abhängig von der Qualifikation der Handelnden, den lokalen Arbeitsabläufen und
der Komplexität der jeweiligen Behandlungssituation. Deshalb sollte sich jedes
Krankenhaus in eigenen Qualitätsanalysen ein Bild über Mängel verschaffen. Ohne
strukturierte Analysen lassen sich solche Fehler nicht entdecken und ohne
gezielte Maßnahmen kaum verhindern. Solche Maßnahmen sind inzwischen ein
Qualitätsmerkmal einer Institution. Kontrollen und Analysen der kritischen
Prozesse, z.B. Verordnung und Verabreichung von Arzneimitteln, haben sich bewährt.
Sie vermitteln innerhalb kurzer Zeit und mit wenig Aufwand umfassenden Einblick
in relevante Abläufe. Elektronische Hilfestellung als Teil der Strategie zur
Fehlervermeidung ist inzwischen üblich.
Einleitung:
Arzneimitteltherapiesicherheit (AMTS) resultiert aus einer Kette von Analysen,
Planungen, Gewichtungen, Entscheidungen und konsequenten Handlungen mit dem
Ziel, den Nutzen einer Arzneimitteltherapie für den individuellen Patienten zu
maximieren (Abb. 1). Dies bedeutet, dass auch unter schwierigen Bedingungen,
wie Zeitdruck, Hektik, Beteiligung vieler Personen, Komplexität der
Anforderungen (Multimorbidität, Polypharmakotherapie) und angesichts der
Maßnahmen (schwierige oder aufwändige Arzneimittel-Applikation), ausreichend
Informationen und Kenntnisse vorliegen müssen. Erst dann können Gefahren durch
unterlassenen oder fehlerhaften Arzneimitteleinsatz vermieden werden. Sind
diese Informationen und Kenntnisse nicht verfügbar, wird entsprechende
Unterstützung notwendig. Wird diese nicht gewährt, kann das Resultat nicht
optimal sein.
Maßnahmen zur AMTS sind besonders wichtig bei
multimorbiden Patienten mit Polypharmakotherapie (z.B. Intensivpatienten) und
an Schnittstellen von Versorgungssektoren, da hier eine umfassende Beurteilung
mit Sichtung meist großer Datenmengen erforderlich ist (Schichtwechsel, Aufnahme-
und Entlassungsmanagement).
Immer wenn therapierelevante Details unberücksichtigt
bleiben, geschehen Fehler. Zwar wird nur eine Minderheit dieser Fehler schwerwiegende
Folgen (z.B. vermeidbare unerwünschte Wirkung oder fehlende Wirkung) haben. Da
es aber im Einzelfall schwierig ist, die Relevanz solcher Fehler einzuschätzen,
sind systematische Strategien notwendig, um grundsätzlich Fehler zu vermeiden.
Entdeckung von Lücken in der AMTS: Jede Institution braucht eigene Daten: Lücken
in der AMTS einer Institution sind nicht zwingend auf andere Krankenhäuser
übertragbar, denn der lokale Unterstützungsbedarf im Prozess der Arzneimitteltherapie
hängt von der Qualifikation der Handelnden, der Verfügbarkeit von Information
und der Struktur des Therapieprozesses am Standort ab. Daraus folgt, dass außer
bei offensichtlichen Schwächen (z.B. fehlendem problemlosen Zugang zu aktueller
- am besten elektronischer - Arzneimittelinformation) eine Institution erst mit
einer gezielten Analyse der tatsächlichen Abläufe Klarheit über Art und Ausmaß
der Probleme erhält.
Fehler müssen gewichtet werden: Da nicht jeder Fehler mit dem gleichen Risiko
verbunden ist, sind Strategien nötig, um die erkannten Schwächen nach
Schweregrad und Lösungsmöglichkeiten zu gewichten (1). Mit solchen Analysen
kann festgelegt werden, wo Interventionsbedarf besteht und welche Intervention
die größte Aussicht auf Erfolg hat. Um Fehler zu erkennen, hat sich in vielen
Fällen die direkte Kontrolle durch qualifizierte Personen bewährt. So können tausende
verschiedener Verabreichungsprozesse sehr rasch, d.h. innerhalb weniger Wochen,
evaluiert werden (1-3). Außerdem können durch Aktivierung der Eigenberichterstattung
oder der Spontanmeldesysteme, aber auch durch klinische Pharmazeuten auf den Stationen
Risiken entdeckt werden (4, 5). Strukturierte Interviews zur Analyse von
Sicherheitsmängeln (z.B. bei jedem Auftreten von UAW) können wertvolle Hinweise
auf Systemfehler geben (6). Je nach Ziel ist schließlich auch die Analyse
papierbasierter Dokumentation (4, 7-9) oder elektronisch verfügbarer
Verordnungsdaten hilfreich (10, 11). Letztere bietet die Möglichkeit,
kontinuierlich und automatisiert bei Fehlern zu intervenieren und den Erfolg
einer Intervention auch kontinuierlich zu messen (11, 12). Außerdem können
Überprüfungen (z.B. in Form von Fragebögen) darüber informieren, ob relevante
Inhalte unbekannt sind oder aus anderen Gründen nicht berücksichtigt werden. Wenn
Fehlerquellen im Team wohl bekannt sind (z.B. bei steriler Infusionszubereitung),
aber trotzdem nicht abgestellt werden, ist es besser, den Arbeitsablauf zu
verändern (z.B. weniger Hektik, Möglichkeit der Händedesinfektion am
Arbeitsplatz schaffen usw.), als Energie in Fort- und Weiterbildung zu stecken.
Interventionen zur Erhöhung der AMTS: Verschiedene Interventionstechniken haben sich in
der Qualitätssicherung der Arzneimitteltherapie als wirksam erwiesen. Den
klinischen Systemen zur Entscheidungsunterstützung („Clinical Decision Support
Systems” = CDSS) kommt dabei besondere Bedeutung zu. Manuell oder elektronisch
unterstützt bieten sie Entscheidungshilfen und Erinnerungsfunktionen unter
Berücksichtigung patientenspezifischer Merkmale (13, 40). Häufig sind sie
verknüpft mit CPOE-Systemen („Computerized Physician Order Entry”- oder „Computerized
Provider Order Entry”-Systeme). Dies sind rechnergestützte Verordnungssysteme,
mit dem Ziel, die Zahl von Medikationsfehlern zu vermindern (40). Für den Erfolg
der CDSS wurden vier zentrale Voraussetzungen identifiziert. Sind sie gemeinsam
vorhanden, ist in 94% ein Erfolg garantiert. Entscheidend sind 1. die
Integration in den klinischen Arbeitsprozess mit 2. Unterstützung am Ort
und zum Zeitpunkt der Entscheidungsfindung, 3. die automatische Ausgabe
einer klaren Handlungsempfehlung (statt alleinige Benachrichtigung über Mängel
ohne Lösungsvorschlag) und 4. die Nutzung der Computertechnologie (14, 38).
Die Art eines Fehlers beeinflusst auch den Erfolg einer Technik zur
Fehlervermeidung. Naturgemäß ist es schwieriger, dezentrale Prozesse, wie die Applikation
von Arzneimitteln, elektronisch zu beeinflussen, während die Verordnung von
Arzneimitteln elektronischen Interventionen leichter zugänglich ist (11-13, 15, 39).
Risikosituationen im Krankenhaus: AMTS zu erreichen, ist nicht in jeder
Behandlungssituation gleich aufwändig. Es gibt Patienten mit besonderem
Betreuungsbedarf: Multimorbidität und daraus resultierende Polypharmakotherapie
komplizieren die Arzneimitteltherapie für den verschreibenden Arzt und den
Patienten. Interaktionen müssen berücksichtigt und individuelle Dosierungen
berechnet werden. Adhärenz-fördernde Maßnahmen können notwendig werden. In der
stationären Krankenversorgung ergeben sich besonders auf Intensivstationen
Probleme mit UAW durch unberücksichtigte Wechselwirkungen (16) und auf pädiatrischen
Stationen durch besondere Herausforderungen bei der Applikation (2, 39).
Besondere Risiken bei Schnittstellen: In der AMTS kommt neben den Krankenstationen mit großem
Arzneimittelbedarf den Schnittstellen im Versorgungsprozess besondere Bedeutung
zu. Therapien werden kompliziert, wenn Patienten von mehreren Ärzten betreut
werden müssen: Unterschiedliche Rahmenbedingungen bei der Versorgung
(hausärztliche Versorgung versus stationäre Medizin), andere Entgeltsysteme
(z.B. DRG), unterschiedliche Arzneimittelsortimente, differierende Aufträge
(Langzeitbetreuung vs. Akutmedizin) führen zu unterschiedlichen Interessen. Bei
Übertritt Hausarzt/Krankenhaus sind Entscheidungen zu treffen, die beiden gerecht
werden und die Bedürfnisse der Patienten in den Vordergrund stellen müssen, ohne
die Rahmenbedingungen ihrer Betreuer zu ignorieren (17). Außerdem ist in der
stationären Medizin typisch, dass mehrere Personen und Berufsgruppen Einfluss
auf die Therapie haben. Deshalb muss der Informationsfluss optimal sein. In der
Pharmakotherapie geht es darum, eine etablierte und in der Dosierung bereits titrierte
Behandlung nicht zu gefährden und die Durchführbarkeit den Bedürfnissen des
Patienten anzupassen.
Jede Schnittstelle zwischen betreuenden Personen kann
die Kontinuität einer Therapie gefährden. Deshalb sind Maßnahmen zur
Therapieoptimierung besonders wichtig. Solche Maßnahmen umfassen u.a.
·
Techniken zur intensiveren Erhebung
der Arzneimittel-Anamnese, denn sie ist oft lückenhaft (18-20),
·
Standards zum Umsetzen von
Therapien auf das jeweilige Arzneimittelsortiment, so genanntes Switching, z.B.
auf eine Krankenhausliste (21, 22),
·
die Berücksichtigung häufig
wechselnder, dosierungsrelevanter Patientenfaktoren, z.B. Nierenfunktion (23-26)
und Interaktionen (16), um Über- oder Fehldosierungen zu vermeiden (10, 12),
·
Prüfung der technischen (27, 28)
und mentalen Durchführbarkeit einer (Kombinations-)Therapie durch den Patienten
oder seine Betreuer (2) und eventuell der Vereinfachung des Therapieplans zur Unterstützung
der Adhärenz (29),
·
strukturiertes Entlassungsmanagement
(20, 30), d.h. rasche Information des Hausarztes und Monitoring
eventueller UAW (31).
Darüber hinaus ergibt sich bei jedem Wechsel des
betreuenden Teams auch eine Chance zur Verbesserung der Qualität, z.B. durch
Korrektur von Leitlinienabweichungen (26, 32) oder Dosierungs- und anderen
Verordnungsfehlern (11, 12).
Ergebnisse vor und nach Maßnahmen, die AMTS zu
verbessern: Aus vielen nationalen
und internationalen Studien ist bekannt, dass klinische Systeme zur
Entscheidungsunterstützung (CDSS, CPOE s.o.) die Verordnungsqualität erhöhen
können (14, 33). Endpunktdaten sind aber noch spärlich (34, 40) und
gelegentlich können solche elektronischen Systeme auch gravierende neue Fehler
verursachen (35, 36). Es ist deshalb wichtig, dass ein System sorgfältig im
klinischen Alltag geprüft wurde.
Situation in Deutschland: Auch in Deutschland haben zahlreiche Studien gezeigt,
dass ohne gezielte Maßnahmen sehr viele Fehler im Prozess der Arzneimitteltherapie
auftreten und die aktuellen Maßnahmen zur Qualitätssicherung nicht ausreichen.
Besonders viele Daten zur Qualität der Arzneimitteltherapie und zur Wirksamkeit
entsprechender Interventionen gibt es aus Heidelberg. So wurden Dosierungen oft
nicht individualisiert, z.B. bei 48% der Intensivpatienten nicht an die
Nierenfunktion angepasst. Nach Intervention waren es 24% (24); 4,8% der
Verordnungen waren überdosiert, nach Intervention 3,8% (12); 2,7% der oralen
Arzneimittel wurden als teilbare Tabletten verschrieben, obwohl sie nicht
teilbar waren. Nach Intervention waren es 1,4% (11). Auf Intensivstation
blieben gefährliche Wechselwirkungen in 44% unberücksichtigt (16). Gezielte
qualitätssichernde Maßnahmen mit elektronischer und/oder klinisch-pharmazeutischer
Unterstützung führten in der Regel mindestens zu einer Halbierung der Fehler
und - bei Beachten und Verhindern von Wechselwirkungen - auch der UAW (auf 25%;
16).
Außerdem wurde eine Fülle von Daten zur Verabreichung
von Arzneimitteln erhoben. Sie weist darauf hin, dass gut verordnet nicht gleichbedeutend
ist mit richtig verabreicht. So waren 5,8% der Infusionen auf Intensivstationen
inkompatibel. Nach Intervention: 2,4% nach acht Wochen, 1,2% nach einem Jahr (3, 37).
Analysen auf internistischen Stationen entdeckten bei der Zubereitung pro Infusion
im Mittel 1,3 und bei der Verabreichung 0,7 Fehler. Beträchtliche Fehlerraten
gab es auch bei oralen Arzneimitteln: 0,5 Fehler bei der Zubereitung, 0,2
Fehler bei der Verabreichung (1). Wurden Angehörige (z.B. Eltern) ins
Monitoring miteinbezogen, waren nahezu alle (97%) Verabreichungen fehlerhaft (nach
Intervention: 5,6%; 2). Das unterstreicht wiederum die Dringlichkeit von Interventionen
in diesem Bereich, um die Qualität zu steigern und alle Beteiligten kontrolliert
mit einzubeziehen.
Im Krankenhaus treten die Fehler beim Umgang mit
Arzneimitteln nicht ausschließlich bei der Verordnung, sondern viel häufiger
bei der Applikation auf. Je nach den Rahmenbedingungen in der jeweiligen
Institution können diese Fehler durch direkte Intervention oder auch durch elektronische
CDSS beträchtlich und relevant vermindert werden, d.h. Halbierung (3, 11, 15, 16, 23)
oder mehr (2, 32). Es gibt also erhebliches Verbesserungspotenzial. Wer in
seinem Verantwortungsbereich solche Fehler nicht aktiv sucht, muss davon
ausgehen, dass viele Fehler unentdeckt bleiben und somit die Qualität nicht
verbessert werden kann.
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(Zuletzt geprüft am 10.6.2010).
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