Die Diskussion um
die Unabhängigkeit der Gutachter des neuen „Diagnostic and Statistical Manual
of Mental Disorders” (DSM-5) der amerikanischen Psychiatric Association (APA)
berührt fundamentale Fragen der Medizin. In diesem Manual werden psychiatrische
Erkrankungen und Störungen definiert und klassifiziert. Das DSM versteht sich
als Ergänzung zum ICD-10 der WHO. Leider divergieren DSM und ICD sowohl
inhaltlich als auch teilweise in ihrer Systematik.
Das DSM wurde in
den vergangenen Jahren überwiegend in der klinischen Forschung verwendet und
später von vielen psychiatrischen Gesellschaften in Europa übernommen. Es gilt
heute als Standard bei der Definition psychiatrischer Diagnosen und somit auch
für viele therapeutische Interventionen und epidemiologische Daten. Der Inhalt
des DSM hat deshalb sehr weitreichende medizinische, politische und ökonomische
Konsequenzen. Die Süddeutsche Zeitung schrieb, dass der Inhalt des DSM darüber
entscheidet „ob die Krankenkasse
eine Therapie zahlt, ob Straftäter ins Gefängnis oder in die Psychiatrie
wandern, ob ein bestimmtes Sexualverhalten toleriert wird, welche Projekte an
den Universitäten Drittmittel erhalten, wohin die Pharmaindustrie ihre
Forschungsmilliarden lenkt und ihr Marketing” (1).
Zentraler
Kritikpunkt am DSM und seinen Autoren ist, dass die Klassifikation im
Wesentlichen auf Expertenkonsensus (Evidenzgrad C) beruht. Die Festlegungen,
was krank ist, sind oft viel zu weitreichend und unterliegen dem Zeitgeist
sowie äußerer Einflussnahme. Ab Mai nächsten Jahres sollen laut DSM-5 Kinder mit ausgeprägten
Stimmungsschwankungen und heftigen Temperamentsausbrüchen unter der Diagnose
„Temper dysregulation with dysphoria” (TDD) klassifiziert werden oder Menschen
mit mindestens einer Fressattacke pro Woche und damit verbundenen
Schuldgefühlen unter „Binge eating” leiden.
Neu wird auch das
„Psychosis Risk Syndrome” sein, das bei Menschen diagnostiziert werden kann,
die in abgeschwächter Form Symptome einer Psychose zeigen, etwa starkes
Misstrauen (2). Im nächsten Schritt werden bei diesen Störungen Therapien
angeboten – zu häufig Arzneimittel. Der Inhalt des DSM kann dazu führen, dass Menschen überdiagnostiziert, übertherapiert und
stigmatisiert werden. Einer der Väter des derzeitig gültigen DSM-IV hat sich zu
einem großen Kritiker der neuen Klassifikation gewandelt. Allen Francis,
emeritierter Psychiatrieprofessor der Duke-Universität konstatiert, dass man
mit dem DSM-IV in der Vergangenheit bereits falsche Epidemien erzeugt habe wie
z.B. beim Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (3). Mit der neuen Klassifikation würden weitere
behandlungsbedürftige Störungen hinzugefügt und neue Patienten geschaffen.
Selbst wenn man
diese etwas überzeichnete Meinung nicht teilt, sollte eigentlich klar sein,
dass bei einer so weitreichenden Klassifizierungsarbeit die Industrie unbedingt
außen vor sein muss, um ihre Einflussnahme möglichst gering zu halten. Die APA
versucht daher den Diskussionsprozess möglichst transparent zu halten. Jeder
kann auf der APA-website den Stand der Dinge einsehen und Eingaben machen (4).
Neu ist auch, dass die Autoren des DSM-5 ihre Verbindungen zur Industrie
offenlegen müssen und dass das Ausmaß der materiellen Interessenkonflikte begrenzt
ist. Bei der Version IV aus dem Jahre 1994 war dies noch nicht vorgeschrieben.
Eine spätere Analyse ergab jedoch, dass 57% der Arbeitsgruppen-Mitglieder
seinerzeit eng mit der Industrie verbunden waren (5).
Von den
gegenwärtig 141 Wissenschaftlern, die in 13 Arbeitsgruppen am DSM-5 arbeiten,
geben 69% finanzielle Beziehungen zur Industrie an („Honoraria”). In
Dreiviertel aller thematisch geordneten Arbeitsgruppen überwiegt der Anteil der
Mitglieder mit Interessenkonflikten (s. Tab. 1). Besonders hoch ist
der Anteil der abhängigen Wissenschaftler in den Arbeitsgruppen, in denen die
Pharmakotherapie die Hauptrolle spielt: Mood disorders (83%), Psychotic
disorders (100%), Sleep/Wake disorders (100%).
Die engen
inhaltlichen und materiellen Verbindungen von Psychiatern zur Industrie wurden
1999 von dem Harvard Psychiater Stephen Bergman alias Samuel Shem in seinem
Buch „Mount Misery” trefflich beschrieben (5). Die Psychiater, die besonders
fleißig Patienten rekrutieren und in Pharmastudien einschließen, fahren in dem
Roman stets mit den teuersten Autos vor.
Das Regelwerk, das
definiert, was ein Interessenkonflikt ist, ist darüber hinaus auch nicht
standardisiert. So müssen die DSM-5-Wissenschaftler z.B. nicht angeben, ob sie
Geld für von der Industrie vorgefertigte Vorträge erhalten haben („Speakers
bureau”) oder „Unrestricted research grants”.
Die Autoren eines sehr
kritischen Artikels in PloS Medicine zum DSM-5 (6) argumentieren, dass jede Verbindung
zur Industrie eine „Pro-industry habit of thought” schaffe. Sie fordern über
die Transparenz der Interessenkonflikte hinaus bei solch wichtigen Gremien wie
dem DSM-Board sehr strenge Regeln (vgl. 7):
·
Die Mitglieder des
Boards sollten gänzlich frei sein von Interessenkonflikten.
·
Mitglieder, die in
einem „Speakers bureau” tätig sind, müssen ausgeschlossen werden.
·
Wissenschaftler mit
Interessenkonflikten dürfen nur beratend tätig werden, aber nicht abstimmen.
Fazit: Interessenkonflikte mit der Industrie
sind in der Medizin Normalität und sehr vielfältig. Eine Politik der Transparenz
ist nur ein erster Schritt, die Einflussnahme Dritter zu reduzieren
(vgl. 8). Es muss in Gremien wie dem DSM, in dem bedeutsame medizinische, gesundheitspolitische
und ökonomische Weichen gestellt werden, penibel auf Neutralität geachtet werden.
Die Angabe der Interessenkonflikte allein ist nicht ausreichend. Für die
Mitglieder solcher Gremien muss die Unabhängigkeit definiert werden.
Literatur
- Weber, C.: Süddeutsche Zeitung 10.7.2011.

- Beise, U.: ArsMedici 2010, 7, 266.
- http://www.spiegel.de/.../adhs-burnout-depression-forscher-warnen-vor-millionen-scheinpatienten..

- http://www.dsm5.org

- Shem, S.: Mount Misery. DroemerKnaur 2000. ISBN 3-426-61460-X.
- Cosgrove, L., und Krismsky, S.: PloS Med. 2012, 9,e1001190.

- Lo, B., und Field,M.J.: Conflict of interesting medical research, education, and practise. Institute of Medicine. National Academies Press, Washington DC, 2009.
- AMB 2012, 46,16b.

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