Zum Nutzen der Hypertoniebehandlung im sehr (!) hohen Alter
gibt es nach wie vor wenig und zudem widersprüchliche Ergebnisse aus Studien. Die
randomisierte kontrollierte HYVET-Studie hatte gezeigt, dass auch Hypertoniker
> 80 Jahre mit systolischen Blutdruckwerten > 160 mmHg
von einer frühzeitigen Blutdrucksenkung auf < 150 mmHg profitieren
(1, 2). Allerdings galten in HYVET schwerwiegende Komorbiditäten (z.B.
Herz- oder Niereninsuffizienz, Demenz) sowie erforderliche Betreuung in einer
Pflegeeinrichtung als Ausschlusskriterien. Daten aus Beobachtungsstudien und die
tägliche klinische Erfahrung zeigen, dass eine intensive antihypertensive Therapie
bei sehr alten, gebrechlichen Patienten oft nicht toleriert wird. Die aktuellen
US-amerikanischen Leitlinien geben als Zielwert bei Patienten ≥ 60 Jahre
Blutdruckwerte von < 150/90 mmHg vor, ohne auf hohes Alter,
Gebrechlichkeit oder Komorbiditäten einzugehen (3). Die Leitlinien der
europäischen Fachgesellschaften überlassen in einer Klasse-I-C-Empfehlung die
Entscheidung in dieser Patientengruppe dem behandelnden Arzt, ohne Blutdruck-Zielwerte
anzugeben (4). Eine aktuell publizierte Studie (PARTAGE) einer französischen
Forschergruppe bestätigt diese zurückhaltende Vorgehensweise (5).
In die PARTAGE-Studie – eine longitudinale
Beobachtungsstudie – wurden 1.127 gebrechliche Patienten im Alter von ≥ 80 Jahren
(im Mittel 88 Jahre, 78% Frauen) aus französischen und italienischen
Pflegeheimen eingeschlossen (Januar 2007 bis Juni 2008) und über zwei Jahre
nachbeobachtet. In einer früheren Publikation der Ergebnisse (6) hatte sich
eine Korrelation zwischen niedrigen systolischen Blutdruckwerten (Messung:
zweimal drei assistierte Selbstmessungen an drei aufeinanderfolgenden Tagen,
insgesamt 18 Messungen) und erhöhter Gesamtletalität ergeben. Diese war in
der unteren Blutdruck-Terzile (< 130 mmHg) um 30% erhöht. Die Assoziation
blieb auch nach Adjustierung bestehen, z.B. nach Alter, Geschlecht, Komorbiditäten
oder kognitiver Funktion. Die Ursachen hierfür waren letztlich nicht klar.
Offenbar waren niedrige Blutdruckwerte in dieser Patientengruppe auch Ausdruck
prognostisch ungünstiger Begleitfaktoren, z.B. Mangelernährung und
Herzinsuffizienz. Da die Teilnehmer im Mittel 7,1 Arzneimittel – davon
1,7 Antihypertensiva – einnahmen, vermuteten die Autoren Polypharmazie als
einen weiteren Ko-Faktor und führten dazu eine separate Analyse durch (5).
Methodik: Im oben
beschriebenen Kollektiv wurde die Interaktion der Faktoren „Blutdruck“ und „Zahl
der Antihypertensiva“ untersucht, die dafür in binäre Kovariable geteilt
wurden: Blutdruck < 130 mmHg vs. ≥ 130 mmHg und
Zahl der Antihypertensiva < 2 vs. ≥ 2.
Primärer Endpunkt war die Gesamtletalität.
Ergebnisse: Die Gruppe der
Patienten, die einen systolischen Blutdruck < 130 mmHg hatten und ≥ 2 Antihypertensiva
einnahmen, umfasste 227 Patienten (20,1%; mittlerer Blutdruck 119 mmHg;
mittlere Zahl der Antihypertensiva 2,6). Die übrigen 900 Patienten (79,9%)
nahmen im Mittel nur 1,5 Antihypertensiva und hatten einen systolischen
Blutdruck von im Mittel 142 mmHg. Im zweijährigen Beobachtungszeitraum starben
32,2% der Patienten mit niedrigem Blutdruck, die ≥ 2 Antihypertensiva
eingenommen hatten, dagegen nur 19,7% aller übrigen Patienten (davon 14,5% bzw.
9,4% aus kardiovaskulären Ursachen). Die drei Gruppen innerhalb dieser
900 übrigen Patienten (d.h. Blutdruck ≥ 130 mmHg plus
bzw. oder Zahl der Antihypertensiva < 2 unterschieden sich nicht
hinsichtlich ihrer Gesamtletalität (p = 0,72). Das Letalitätsrisiko
bei Blutdruck < 130 mmHg plus Einnahme von ≥ 2 Antihypertensiva
war nach Adjustierung gegenüber den anderen Gruppen um 78% erhöht; dieser
Effekt wurde in seiner Größenordnung in drei vordefinierten Subanalysen
bestätigt (s. Tab. 1). Er blieb auch erhalten nach Ausschluss
kardiovaskulärer Komorbiditäten und nach Ausschluss von Patienten, die
antihypertensiv wirkende Arzneimittel aus anderer Indikation einnahmen (z.B. Herzinsuffizienz,
Arrhythmien).
Diskussion: Dass die Letalität
auch gegenüber den beiden Patientengruppen hochsignifikant erhöht ist, auf die
nur einer der beiden Faktoren zutrifft (d.h. Blutdruck < 130 mmHg oder
Einnahme ≥ 2 Antihypertensiva), deutet darauf hin, dass keiner
dieser beiden Faktoren (Hypotonie, Polypharmazie) allein dafür verantwortlich
ist, sondern deren Kombination. Letztlich bleibt die Ursache für die erhöhte Letalität
auch bei dieser Auswertung der PARTAGE-Studie unklar. Die Autoren postulieren eine
Hypoperfusion wichtiger Organe wie Gehirn, Nieren, Herz aufgrund einer
eingeschränkten Autoregulation bei sehr alten Patienten als weiteren kausalen Faktor.
Hinweise auf einen Einfluss von Komorbiditäten ergeben sich aus der
multivariaten Analyse nicht; die Autoren weisen aber darauf hin, dass möglicherweise
andere, nicht erfasste Faktoren existieren. Außerdem war eine Adjustierung nach
dem Schweregrad der Komorbiditäten nicht möglich; sie hätte möglicherweise ein
differenzierteres Bild ergeben. Die Autoren betonen, dass diese reine
Beobachtungsstudie zwar keine Evidenz liefert, ob bei Blutdruckwerten
< 130 mmHg die antihypertensiven Arzneimittel verringert werden
sollten. Die Resultate wiesen aber darauf hin, dass die antihypertensive
Behandlung bei sehr alten und gebrechlichen Patienten weniger intensiv
durchzuführen und Polypharmazie möglichst zu vermeiden ist. Leider werden in
der Studie die Antihypertensiva nicht spezifiziert angegeben und ausgewertet.
Fazit: Eine nur an
isolierten (Surrogat-)Parametern ausgerichtete intensive Arzneimitteltherapie
kann negative Auswirkungen haben. Dies ist insbesondere bei Hochrisikopatienten
(sehr hohes Alter, Gebrechlichkeit, Komorbiditäten) der Fall,
wenn allgemein definierte Therapieziele nur durch Polypharmazie zu erreichen
sind. Eine aktuelle, industrieunabhängige Beobachtungsstudie bestätigt, dass
dies wohl auch für die antihypertensive Therapie zutrifft. Therapieentscheidungen
sollten stets im Rahmen einer umfassenden Beurteilung des individuellen
Patienten (Alter, Komorbiditäten, Gebrechlichkeit, Polypharmazie) erfolgen.
Künftige Leitlinien sollten nach Möglichkeit individuelle Empfehlungen für die
rasch wachsende Gruppe von sehr alten Patienten mit multiplen Komorbiditäten
enthalten, speziell für besonders geeignete antihypertensive Wirkstoffe.
Literatur
- Beckett,N., et al. (HYVET = HYpertension in the Very Elderly Trial):BMJ 2011, 344, d7541
. AMB 2012, 46, 13. 
- Beckett,N.S., et al. (HYVET= HYpertension in the Very Elderly Trial): N. Engl.J. Med. 2008, 358, 1887
. AMB 2008, 42, 52. 
- James, P.A., et al.: JAMA2014, 311, 507.

- Mancia, G., et al.: Eur.Heart J. 2013, 34, 2159.

- Benetos, A., et al.(PARTAGE = Predictive values of blood pressure and arterial stiffness ininstitutionalized very aged population): JAMA Intern. Med. Published online February16, 2015. doi:10.1001/jamainternmed.2014.8012.

- Benetos, A., et al.(PARTAGE = Predictive values of blood pressure and arterial stiffness ininstitutionalized very aged population): J. Am. Coll. Cardiol. 2012, 60, 1503.

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