Ziel der Verordnung (EG) Nr. 141/2000 vom
16.12.1999 über Arzneimittel für seltene Leiden war es, durch Anreize –
beispielsweise beschleunigte Zulassungsverfahren, ermäßigte
Bearbeitungsgebühren, 10-jähriges Marktexklusivitätsrecht – pharmazeutische
Unternehmer (pU) zu motivieren, verstärkt Orphan drugs (OD) zu entwickeln
(1, 2). Ähnliche Regelungen existieren in den USA bereits seit 1983 und in
Japan seit 1993 (2). Als selten gelten in Europa Krankheiten, wenn sie
statistisch höchstens 5 von 10.000 Einwohnern betreffen (Prävalenz). Bisher
wurden 6.000 bis 8.000 solcher Krankheiten entdeckt. Während sich ursprünglich
nur wenige pU im Bereich der OD engagiert hatten, bewirkten die zuvor genannten
Anreize für die Entwicklung von OD, aber auch die Unterscheidung kleiner
Untergruppen bei eher häufigen Krankheiten anhand von Biomarkern im Rahmen der
individualisierten Medizin (z.B. in der Onkologie), dass auch große pU OD als
sehr lukratives Geschäftsfeld erkannten (3, 4). Das bedeutet: Stabiles
Umsatzwachstum, Wachstumsraten von etwa 7,5%/Jahr und ein globaler Umsatz von
mehr als 100 Mrd. US-$/Jahr sowie inzwischen ein Anteil von etwa 15% am
weltweiten Umsatz von Arzneimitteln (5).
Im Jahr 2008 untersuchten italienische
Pharmakologen, wie gut Wirksamkeit und Sicherheit der damals 44 als OD in
Europa zugelassenen Arzneimittel belegt sind (6). Die Ergebnisse waren ernüchternd.
Bei 19 von 44 OD lagen keine randomisierten kontrollierten Studien (RCT) vor.
Bei 22 von 25 OD mit RCT wurde der neue Wirkstoff gegen Plazebo verglichen.
Meist wurden für die Zulassung keine patientenrelevanten Endpunkte, sondern
Surrogatparameter zur Beurteilung der Wirksamkeit untersucht. Vor diesem
Hintergrund hatten sowohl das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen (IQWiG) als auch die Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (AkdÄ) dafür plädiert, dass auch im Rahmen der durch das AMNOG
eingeführten frühen Nutzenbewertung OD hinsichtlich ihres Zusatznutzens
bewertet werden (3, 7). Dies wurde leider durch erfolgreiche Lobbyarbeit
der pharmazeutischen Industrie mit Unterstützung durch die „Allianz chronischer
seltener Erkrankungen“ (ACHSE) verhindert, und es wird bereits allein durch die
Zulassung als OD von einem belegten Zusatznutzen ausgegangen (3, 7). Ein
wichtiges Ziel der 1999 verabschiedeten EG-Verordnung – „Patienten mit seltenen
Leiden haben den selben Anspruch auf Qualität, Unbedenklichkeit und Wirksamkeit
von Arzneimitteln wie andere Patienten“ – wurde somit verfehlt.
Kürzlich wurde von derselben Arbeitsgruppe
aus Italien wie 2008 am Beispiel von 6 OD untersucht, welche weiteren
wissenschaftlichen Erkenntnisse durch klinische Studien für diese Arzneimittel
in den 10 Jahren nach der Zulassung generiert wurden (8). Die ausgewählten
Arzneimittel waren alle im Jahr 2004 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur
(EMA) als OD zugelassen worden, hatten teilweise aber bereits länger eine
nationale Zulassung. Ausgewählt wurden für diese Auswertung drei onkologische
Wirkstoffe (Anagrelid, Cladribin, Mitotan) sowie drei andere Wirkstoffe zur
Behandlung seltener Krankheiten: Ibuprofen für das Anwendungsgebiet: Verschluss
des offenen Ductus arteriosus bei Neugeborenen; Porfimer-Natrium für die
photodynamische Therapie des Barrett-Ösophagus; Zinkacetat für die Therapie des
Morbus Wilson. Am Beispiel der drei onkologischen Wirkstoffe konnten die
Wissenschaftler verdeutlichen, dass der von pU reklamierte, angeblich durch die
Zulassung bereits belegte Zusatznutzen auch 10 Jahre nach der Zulassung nicht durch
wissenschaftliche Erkenntnisse nachgewiesen werden konnte und dass weiterhin
wichtige Erkenntnisse fehlen zu Wirksamkeit und Sicherheit dieser Arzneimittel
in den zugelassenen Anwendungsgebieten.
Anagrelid (Xagrid®) wurde zur
Verringerung der erhöhten Thrombozytenzahl bei Risikopatienten mit essentieller
Thrombozythämie (ET) zugelassen. Die Zulassung basierte auf zwei „compassionate
use“-Programmen an insgesamt 1176 Patienten. Weitere Studien vor der
Zulassung wurden entweder frühzeitig abgebrochen oder lieferten keine
aussagekräftigen Ergebnisse hinsichtlich Wirksamkeit und Sicherheit von
Anagrelid. Von den insgesamt acht nach der Zulassung durchgeführten Studien verglichen
drei Anagrelid mit Hydroxyurea, die jedoch keine signifikanten Vorteile für
Anagrelid ergaben (9). Somit ist auch 10 Jahre nach der Zulassung durch die EMA
nicht klar, ob Anagrelid wirksamer als beispielsweise Hydroxyurea die Zahl der
Thrombozyten bei ET reduziert und vor allem, ob thrombotische und
hämorrhagische Komplikationen der ET wirksamer verhindert werden (8).
Cladribin (Litak®, Leustatin®)
ist für die Behandlung der Haarzell-Leukämie (HCL) zugelassen, wobei Leustatin®
als kontinuierliche intravenöse Infusion über sieben aufeinander folgende Tage
und Litak® als subkutane Bolusinjektion an fünf aufeinander
folgenden Tagen verabreicht wird. Die Zulassung von Cladribin für die
Behandlung der HCL basierte auf zwei einarmigen Studien mit widersprüchlichen
Ansprechraten auf dieses Purinanalogon (97% bzw. 19%). Angaben zum Einfluss auf
das Gesamtüberleben – auch angesichts des langjährigen chronischen Verlaufs der
HCL ist dies ein patientenrelevanter Endpunkt – liegen nicht vor. Die nach
Zulassung durchgeführten Studien ergaben keinen Unterschied hinsichtlich
Ansprechrate und Toxizität bei unterschiedlichen Applikationsformen (tägliche
bzw. wöchentliche Verabreichung). Eine weitere einarmige Phase-II-Studie ergab
Hinweise für eine Überlegenheit der Kombination einer 5-tägigen Applikation von
Cladribin gefolgt von acht wöchentlichen Gaben von Rituximab einen Monat später
(10). Somit ist auch für Cladribin 10 Jahre nach der Zulassung durch EMA nicht klar,
welche Applikationsart zu den besten Ansprechraten führt und ob eine kombinierte
Therapie mit Rituximab das Ansprechen verbessert bzw. die Dauer der Remission
verlängert (8).
Mitotan (Lysodren®) ist
zugelassen für die symptomatische Behandlung des fortgeschrittenen (nicht
resezierbaren, metastasierten oder rezidivierten) Nebennierenrinden-Karzinoms. Die
Wirkung bei nicht-funktionellem Nebennierenrinden-Karzinom ist nicht belegt. Die
Zulassung basiert auf 18 unkontrollierten Studien, ganz überwiegend retrospektiven
Fallserien. Nur wenige dieser Studien haben den Einfluss von Mitotan auf das
Überleben untersucht, und zumeist waren diese Ergebnisse widersprüchlich. Nach
der Zulassung wurde ein RCT (11), zwei einarmige Studien der Phase I bzw.
Phase II und eine Beobachtungsstudie durchgeführt. In dem RCT fand sich
kein Unterschied im Gesamtüberleben bei Patienten, die mit Mitotan in
Kombination mit drei Zytostatika (Etoposid, Doxorubicin, Cisplatin) oder
Mitotan in Kombination mit Streptozocin behandelt wurden. Die Phase-I-Studie
wurde wegen Toxizität abgebrochen und die Phase-II-Studie berichtete über ein
komplettes Ansprechen auf Mitotan bei nur 5 von 72 Patienten. Somit wurde durch
keine dieser Studien ein überzeugender Beleg für eine Verlängerung des Überlebens
durch Mitotan erbracht.
Fazit: Die Analyse der nach Zulassung von
sechs Orphan drugs im Jahr 2004 durchgeführten Studien verdeutlicht erneut, wie
lückenhaft die Erkenntnisse zu Wirksamkeit und Sicherheit dieser beschleunigt
zugelassenen Arzneimittel auch 10 Jahre nach Zulassung noch sind. Orphan drugs
mit häufig unzureichenden Belegen für ihre Wirksamkeit und Sicherheit gefährden
Patienten und belasten mit ihren meist überhöhten Preisen unser solidarisch
finanziertes Gesundheitssystem. Auch wir halten deshalb eindeutige Auflagen der
EMA hinsichtlich der nach Zulassung durchzuführenden klinischen Studien für
erforderlich, ebenso wie Sanktionen – z.B. Marktrücknahme bzw. Beauftragung
unabhängiger Institutionen, die erforderlichen Studien nach Zulassung durchzuführen.
Der Zusatznutzen von Orphan drugs ist durch die Zulassung häufig nicht belegt
und sollte deshalb im Rahmen einer regulären frühen Nutzenbewertung durch IQWiG
und G-BA bewertet werden.
Literatur
- Verordnung (EG)Nr. 141/2000: Off. J. Eur. Communities 2000, L18, 1.

- AMB2008, 42, 73.
- Windeler, J., etal.: Dtsch. Ärztebl.2010, 107, A2032.

- Côté,A., und Keating, B.: Value Health 2012, 15, 1185.

- NZZ: SteteGewinne mit seltenen Krankheiten, 5. August 2013.
- Joppi,R., et al.: Br. J. Clin. Pharmacol. 2009, 67, 494.
- AMB2010, 44, 89.

- Joppi,R., et al.: BMJ 2016, 353, i2978.

- Harrison, C.N., et al.: N. Engl.J. Med. 2005, 353, 33
. Vgl. AMB 2005, 39,68.
- Ravandi,F., et al.: Blood 2011, 118, 3818.

- Fassnacht,M., et al. (FIRM-ACT = First International Randomized trial in locallyadvanced and Metastatic Adrenocortical Carcinoma Treatment): N. Engl. J. Med. 2012,366, 2189.

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