Bei der Mehrzahl der neu
zugelassenen onkologischen Wirkstoffe wurden für Patienten
relevante Endpunkte nur unzureichend untersucht und nur für
wenige ist eine Verlängerung des Überlebens oder eine
Verbesserung der Lebensqualität belegt – dies hat u.a.
eine Untersuchung ergeben über die von der US-amerikanischen
Zulassungsbehörde (Food and Drug Administration = FDA) zwischen
2008 und 2012 erteilten und auf Surrogatendpunkten basierenden
Zulassungen (vgl. 1). Nun kommt eine Untersuchung zu den von der
Europäischen Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency =
EMA) in einem vergleichbaren Zeitraum zugelassenen onkologischen
Arzneimitteln zu einem ähnlichen Ergebnis (2).
In dieser retrospektiven
Kohortenstudie wurden öffentlich zugängliche,
regulatorische und wissenschaftliche Dokumente der EMA zu
onkologischen Arzneimitteln ausgewertet, die in den Jahren 2009 bis
2013 zugelassen worden waren. Sowohl in Zulassungsstudien als auch in
Studien nach der Zulassung wurden Angaben erhoben zum Studiendesign
(Randomisierung, Verblindung, Crossover), zur Behandlung im
Vergleichsarm und zu den Endpunkten, insbesondere zur Verlängerung
des Überlebens und zur Verbesserung der Lebensqualität (2).
Von 2009 bis 2013 hatte
die EMA 48 onkologische Arzneimittel in 68 Indikationen zugelassen.
Nur bei 18 der 68 Indikationen (26%) lag eine Zulassungsstudie vor,
in der die Verlängerung des Überlebens als primärer
Endpunkt ausgewertet wurde. Die anderen Studien werteten
Surrogatendpunkte als primären Endpunkt aus, beispielsweise
progressionsfreies Überleben (progression free survival = PFS),
Ansprechrate oder krankheitsfreies Überleben. Daten zur
Lebensqualität wurden in etwas mehr als der Hälfte der
Zulassungsstudien erhoben (37 von 68, 54%), über Ergebnisse aber
nur in 35 Studien berichtet. Bei 8 Indikationen wurde das
Arzneimittel auf der Grundlage einer einarmigen Studie zugelassen
(12%). Meist (6 von 8) waren dies Arzneimittel zur Behandlung von
seltenen Krankheiten („Orphan drugs“; 3).
Zum Zeitpunkt der
Marktzulassung wurde eine signifikante Verlängerung des
Überlebens bei 24 der 68 Indikationen gezeigt (35%). Die
Verlängerung des Überlebens betrug 1-5,8 Monate (Median
2,7 Monate). Die Verbesserung der Lebensqualität war für
7 Indikationen belegt (10%). Von den 44 Indikationen, bei denen zum
Zeitpunkt der Zulassung keine Verlängerung des Überlebens
belegt war, wurde in Studien nach der Zulassung bei 3 eine
Verlängerung des Überlebens (7%) und bei 5 eine
Verbesserung der Lebensqualität gezeigt (11%). Bei einem
Arzneimittel, das zum Zeitpunkt der Zulassung nach Einschätzung
der EMA eine Verlängerung des Überlebens gezeigt hatte,
ließ sich das in einer nachfolgenden Auswertung nicht mehr
darstellen. Für keines der 10 Arzneimittel mit einer bedingten
Marktzulassung („conditional marketing authorisation“)
wurde nach der Zulassung eine Verlängerung des Überlebens
oder Verbesserung der Lebensqualität gezeigt (vgl. auch 4).
Insgesamt konnte bei nur 35 von 68 Indikationen (51%) im Median 5,4
Jahre nach der Zulassung (Spanne 3,3-8,8 Jahre) eine
Verlängerung des Überlebens oder Verbesserung der
Lebensqualität gezeigt werden (2).
Die Autoren weisen auf
Einschränkungen ihrer Auswertung hin (2): So waren die
Ergebnisse, die in dem Europäischen Öffentlichen
Beurteilungsbericht der EMA dargestellt wurden, teilweise nicht
eindeutig oder unvollständig. Im Zweifel entschieden sich die
Autoren für die Aussagen der EMA zur Wirksamkeit bzw. Sicherheit
des Arzneimittels. Außerdem bewerteten sie nicht, ob die neuen
Arzneimittel im Kontrollarm der Studien mit einer adäquaten
Therapie verglichen wurden. Dies könnte zu einer Überschätzung
des Nutzens der neuen Arzneimittel geführt haben.
In einem den Artikel von
Davis et al. begleitenden Feature der Mitherausgeberin des BMJ (5)
und einem Editorial eines nordamerikanischen Onkologen (6) wird
kritisiert, dass die EMA bei der Zulassung von onkologischen
Arzneimitteln teilweise inadäquate Studiendesigns, Endpunkte und
statistische Auswertungen akzeptiert (3). Dieses Vorgehen der EMA
verteidigt in einem Leserbrief der für onkologische Arzneimittel
bei der EMA zuständige Wissenschaftler, Francesco Pignatti. Er
hält insbesondere die Verwendung des PFS als primären
Endpunkt für gerechtfertigt, weil eine Verlängerung des PFS
das Auftreten und die Verschlimmerung von Symptomen verzögere
(7). Dem widerspricht jedoch der Autor des Editorials (7): Das PFS
beruhe oft auf einer Veränderung der Tumorgröße in
bildgebenden Verfahren, die mit den Beschwerden des Patienten nicht
direkt korreliere. Er unterstützt in bestimmten Situationen eine
bedingte Zulassung, die auf Surrogatendpunkten beruht (7). Dann
müssten jedoch Studien nach der Zulassung – und zwar nicht
erst nach 5 oder 7 Jahren – eine Verlängerung des
Überlebens und/oder eine Verbesserung der Lebensqualität
überzeugend belegen. Aus Sicht von Vinay Prasad hätte die
EMA die Verpflichtung, die Erfüllung dieser Auflagen konsequent
zu überwachen – was derzeit aber nicht geschieht (7).
Fazit:
Eine systematische Untersuchung von onkologischen Wirkstoffen, die
zwischen 2009 und 2013 von der Europäischen Arzneimittel-Agentur
zugelassen wurden, verdeutlicht, dass zum Zeitpunkt der
Marktzulassung bei der Mehrzahl der Arzneimittel eine Verlängerung
des Überlebens oder eine Verbesserung der Lebensqualität
nicht belegt ist. Die wenigen Arzneimittel mit belegtem Nutzen
erreichen häufig nur marginale Verbesserungen. Auch in Studien
nach der Marktzulassung wird ein patientenrelevanter Nutzen nur
selten gezeigt. Dem Resümee der Autoren dieser Studie schließen
wir uns an (2): „Wenn teure Arzneimittel ohne belegten
klinischen Nutzen zugelassen und im Rahmen der solidarisch
finanzierten Gesundheitssysteme erstattet werden, kann dies
individuellen Patienten schaden, wichtige gesellschaftliche
Ressourcen verschwenden und die Verabreichung notwendiger und
erschwinglicher medikamentöser Behandlungen unterminieren“.
Literatur
- AMB
2017, 51,
01.

-
Davis,
C., et al.: BMJ 2017, 359,
j4530.

- AMB
2008, 42,
73
. AMB 2016, 50,
62b. 
- EMA.
Conditional marketing authorisation. Report on ten years of
experience at the European Medicines Agency.

- Cohen, D.: BMJ 2017,
359,
j4543.

- Prasad,
V.: BMJ 2017, 359,
j4528.

- Pignatti,
F.: BMJ
2017, 359,
j4530.

- Prasad,
V.: BMJ 2017, 359,
j4530.

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