Wir haben uns in der
Vergangenheit schon häufiger mit dem komplexen Problem der
Multimedikation, insbesondere bei multimorbiden und älteren
Patienten, beschäftigt (1). Obwohl heute zahlreiche Werkzeuge
zur Optimierung der Pharmakotherapie und dadurch auch Verbesserung
der Arzneimitteltherapiesicherheit zur Verfügung stehen
(Übersicht in 2 und 3), gelingt es trotzdem meist nicht, bei
multimorbiden und/oder älteren Patienten nicht (mehr) indizierte
Medikamente abzusetzen. Eine systematische Übersicht von
25 Studien mit teilweise sehr komplexen Interventionen und mehr
als 10.000 älteren Patienten hat gezeigt, dass in diesen Studien
meist nur eine minimale Reduzierung der verordneten Zahl an
Medikamenten erreicht werden konnte (Reduzierung von durchschnittlich
7,4 auf 7,2 Dauerverordnungen). Überraschenderweise haben die
überwiegend sehr personal- und zeitaufwändigen
Interventionen – mit und ohne IT-Unterstützung –
auch keinen messbaren Effekt auf klinisch relevante Endpunkte, wie
Krankenhausaufnahmen oder Letalität (3).
Mögliche Gründe
für dieses enttäuschende Ergebnis könnten sein, dass
die Interventionen überwiegend zeitlich begrenzt erfolgten, z.B.
im Rahmen einer Krankenhausbehandlung, oft allein nach Aktenlage und
durch Spezialisten (klinische Pharmazeuten, Geriater, Internisten),
denen die Patienten unbekannt waren. Weitere Erklärungen könnten
in den verwendeten Studien-Designs liegen. Es wurden überwiegend
zu wenige Patienten untersucht, zu kurz nachbeobachtet und die
Patienten über die ergriffenen Maßnahmen zu wenig
informiert. In keiner Studie erfolgten Scheininterventionen. Dieser
Aspekt scheint uns jedoch besonders wichtig, da bei jeder Veränderung
der Medikation mit unerwünschten Reaktionen zu rechnen ist,
beispielsweise durch Absetzphänomene und/oder eine
psychologische Verunsicherung des Patienten. Ein Absetzen von
Arzneimitteln kann bei Patienten oder ihren Angehörigen
Befürchtungen auslösen, als hoffnungsloser Fall oder –
noch schlimmer – aus ökonomischen Gründen aufgegeben
zu werden. Dies kann zu einer Verschlechterung der gesundheitlichen
Situation führen.
Gleichwohl hat aber auch
jede/r klinisch Tätige die Erfahrung gemacht, dass eine
Reduzierung medizinischer Maßnahmen und eine intensive
Zuwendung und Beschäftigung mit anderen Bedürfnissen des
Patienten in fortgeschrittenen Krankheitsphasen sehr hilfreich sein
können. Daher sollte in diese Richtung trotz vieler Rückschläge
unbedingt weiter geforscht werden. Dies wird auch in einem Kommentar
zur Reihe „Less is More“ im JAMA Internal Medicine
bekräftigt (4). Dort wird die Reduzierung medizinischer
Maßnahmen als „The Next Frontier for Improving Care
Quality“ bezeichnet und den Autoren medizinischer Leitlinien
eine besondere Verantwortung zugewiesen. Sie sollen nicht nur
Anweisung zur Intensivierung von Therapie und Diagnostik geben,
sondern auch Kriterien und Wege zur ihrer Reduzierung aufzeigen.
Diese Funktion von Leitlinien wird von vielen Experten eingefordert,
die sich mit der Arzneimitteltherapiesicherheit bei multimorbiden und
älteren Menschen beschäftigen (5, 6).
Der Weg dorthin ist aber
offenbar noch lang. Dies zeigt nun eine Analyse von 22 Leitlinien
zu Diabetes und kardiovaskulären Erkrankungen von sieben
US-amerikanischen Fachgesellschaften (Publikationszeitraum
2012-16; 7). Mehr als zwei Drittel der insgesamt
361 Empfehlungen führen zu einer Intensivierung von
Therapie und Diagnostik und nur weniger als ein Drittel zu einer
Reduzierung medizinischer Maßnahmen. Dabei fanden sich große
Unterschiede zwischen den Leitlinien und den Fachgesellschaften
(Spanne 0-53%). Während die Leitlinien des Joint National
Committee (Hypertonie) und der American Diabetes Association gar
keine oder nur sehr wenige Empfehlungen zur Reduzierung gaben, ist
das Verhältnis zwischen Empfehlungen zur Intensivierung und
Reduzierung medizinischer Maßnahmen in den Leitlinien des
American College of Physicians ausgeglichen.
Wie wichtig konkrete
Empfehlungen zur Reduzierung medizinischer Maßnahmen wären,
zeigt das Beispiel der Blutzucker- und Blutdrucktherapie bei älteren
Diabetikern. Seit Publikation der ACCORD-Studienergebnisse ab dem
Jahr 2008 ist bekannt, dass eine zu strenge Einstellung von
Blutzucker und Blutdruck bei älteren Diabetikern die
Wahrscheinlichkeit von schwerwiegenden Therapiekomplikationen und
auch die Sterblichkeit erhöht (8-10). Daher hat die „Choosing
Wisely“-Arbeitsgruppe der American Geriatrics Society bei
älteren Diabetikern sehr differenzierte Therapieziele für
die Blutzucker- und Blutdruckeinstellung vorgegeben (11). Bei älteren
Diabetikern ohne bedeutsame Komorbidität und mit langer
Lebenserwartung wird ein HbA1c-Wert von 7,0-7,5% empfohlen, bei
moderater Komorbidität und einer Lebenserwartung < 10 Jahren
ein HbA1c zwischen 7,5-8,0% und bei ausgeprägter Multimorbidität
und kurzer Lebenserwartung kann ein HbA1c zwischen 8,0% und 9,0%
toleriert werden. Als Zielblutdruck wird ein Wert von 140/90 mm Hg
genannt, wenn die Therapie gut vertragen wird. Darüber hinaus
wird darauf verwiesen, dass eine weitere Senkung des systolischen
Blutdrucks sehr wahrscheinlich keine Vorteile hat und bei < 120 mm Hg
sogar gefährlich ist. Diese Einschätzung deckt sich mit
unserer (12).
Tatsächlich wird
dieses Wissen über kritische Untergrenzen von Blutdruck und
Blutzucker aber noch unzureichend in die Praxis umgesetzt. Nach einer
retrospektiven Analyse von Veterans-Affairs-Versicherungsdaten aus
dem Jahre 2012, also vier Jahre nach Publikation der ACCORD-Studie,
wurde nur bei 27% der älteren Diabetiker auf einen
dokumentierten HbA1c ≤ 6,0% (n = 12.917) adäquat
reagiert und ein orales Antidiabetikum abgesetzt und nur bei 18,8%
der Patienten mit einem dokumentierten systolischen Blutdruck
< 120 mm Hg (n = 81.226) mindestens ein
Antihypertensivum abgesetzt (13). Auch eine kanadische Langzeitstudie
mit den Versicherungsdaten von nahezu 100.000 Diabetikern
zeigte, dass eine Reduzierung der antidiabetischen Therapie nur
selten stattfindet (insgesamt bei 18,3%; 14). Bei der
Entscheidung zur Reduzierung der Antidiabetika scheinen weder die
Diagnose Gebrechlichkeit (21,2%), Multimorbidität (19,4%)
und/oder ein dokumentierter HbA1c-Wert < 6% (20,6%)
ausschlaggebend zu sein. An dieser Untätigkeit hat sich in den
vergangenen 10 Jahren und trotz der ACCORD-Daten nichts
geändert.
Offensichtlich tun sich
also alle sehr schwer mit dem Absetzen von Medikamenten –
selbst wenn genügend Evidenz für einen Nutzen vorliegt.
Ähnliches wie für Antihypertensiva und Antidiabetika gilt
im Übrigen auch für Protonenpumpenhemmer, Betablocker,
Antipsychotika, Anticholinergika, Tranquilizer und viele weitere
Arzneimittel. Bei vielen dieser Arzneimittel kommt noch als
zusätzliches Hindernis hinzu, dass das Absetzen schwierig sein
kann, z.B. wegen Entzugssymptomen, und ein überwachtes
„Ausschleichen“ erfordert. Daher werden zunehmend schon
spezielle „Deprescribing“-Leitlinien entwickelt,
beispielsweise zum Absetzen von Benzodiazepinen, Antipsychotika (15)
und Protonenpumpenhemmern (16, 17).
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