Eine Kohortenstudie
aus
Katalonien greift
ein wichtiges, aber von der klinischen Forschung vernachlässigtes
Thema auf: die Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen
(CVD) bei älteren Menschen mittels Statinen. Während die
Leitlinien Statine in der Sekundärprävention (bei
Hochrisiko) unabhängig vom Alter empfehlen, sind die
Empfehlungen zur Primärprävention uneinheitlich. Ob
überhaupt, ab welchem Grundrisiko und wie lange mit Statinen
behandelt werden soll, sind Fragen, die in randomisierten
kontrollierten Studien (RCT) nicht ausreichend geprüft worden
sind. Die wichtigste Studie zu diesem Thema war PROSPER, die vor
mittlerweile 16 Jahren publiziert wurde (1, vgl. 2).
Darin wurden > 5.800 Patienten zwischen 70-82 Jahren
(im Mittel 75,3 Jahre) und einem mittleren LDL-Cholesterin
(LDL-C) von 148 mg/dl mit Pravastatin oder Plazebo behandelt.
Etwa die Hälfte erhielt die Studienmedikation zur
Primärprävention, hatte also keine kardiovaskuläre
Vorerkrankungen aber ein „erhöhtes Risiko“ (Rauchen,
Hypertonie, Diabetes). Während sich in der Kohorte zur
Sekundärprävention nach 3,2 Jahren ein signifikanter
Vorteil für Pravastatin zeigte (primärer kardiovaskulärer
Endpunkt: 17,4% vs. 21,7%; Hazard Ratio = HR: 0,78), fand sich
bei der Primärprävention kein Nutzen (11,4% vs. 12,1%;
HR: 0,94).
Trotz
dieses negativen Ergebnisses werden Statine heute sehr häufig
Menschen > 75 Jahre zur Primärprävention
verordnet, insbesondere wenn die Berechnung des kardiovaskulären
Grundrisikos einen hohen Wert ergibt. Als gesichert gilt, dass die
Senkung des LDL-C und eine relative Risikoreduktion auch bei alten
Menschen möglich sind. Unklar ist jedoch, ob in Anbetracht
häufigerer Nebenwirkungen von Multimedikation, Gebrechlichkeit
und kürzerer Lebenserwartung die Relation von Nutzen-Risiko
positiv ist und ob die gängigen Risikorechner überhaupt bei
älteren Menschen zur Entscheidungsfindung verlässlich sind.
Die
Autoren der katalanischen Studie versuchten, retrospektiv mit
Hilfe von
Registerdaten den Nutzen einer neu begonnenen Statin-Behandlung zur
Primärprävention von CVD bei Menschen > 75 Jahren
zu errechnen (3). Hierfür wurden
klinische und pharmazeutische Daten aus einem spanischen
Informationssystem zur Qualitätssicherung in der
Primärversorgung (SIDIAP) ausgewertet. Die Daten kamen von 1.365
Hausärzten und beinhalteten anonymisierte Informationen von rund
2 Mio. Katalanen. Ausgeschlossen wurden Patienten < 75 Jahre,
mit bekannter CVD (symptomatische periphere arterielle
Verschlusskrankheit, ischämischer und hämorrhagischer
Schlaganfall, Herzinsuffizienz, koronare Herzerkrankung
einschließlich Angina pectoris, Myokardinfarkt oder koronare
Revaskularisation, spezifische Herzmedikamente oder vorbestehende
Lipidsenker-Verordnung). Weitere Ausschlusskriterien waren u.a.
Typ-1-Diabetes, Dialysepflichtigkeit, Krebs, Demenz oder stationäre
Pflege.
Insgesamt erfüllten 46.864
Patienten die Ein- und Ausschlusskriterien. Davon hatten 16,8%
Typ-2-Diabetes (DM2), 58,8% Hypertonie, 11,5% waren Raucher und 25,5%
hatten eine Hypercholesterinämie. Als „Fälle“
wurden alle Patienten mit einer Statin-Neuverordnung zwischen Juli
2006 und Dezember 2007 gezählt (n = 7.502). Von diesen
waren immerhin 944 ≥ 85 Jahre alt. Knapp 85% der
Patienten mit Neuverordnungen erhielten eine niedrige oder mittlere
Statin-Dosis.
Als Kontrollen dienten 39.362
altersgleiche Patienten ohne Statin-Verordnung. Die Patienten wurden
in 4 Subkohorten unterteilt und innerhalb dieser miteinander
verglichen: Alter 75-84 oder ≥ 85 Jahre sowie mit oder
ohne DM2. Zum Ausgleich der Grundrisiken erfolgte ein
Propensity-Score-Matching. Primäre Studienendpunkte waren das
Auftreten von CVD und die Gesamtletalität bis Dezember 2015. Die
mediane Nachbeobachtungszeit betrug 7,7 Jahre.
Ergebnisse:
In den beiden Kohorten ohne
DM2 fanden sich keine
Vorteile durch die Einnahme eines Statins: Patienten im Alter von
75-84 Jahren (n = 4.802): HR für das Auftreten
einer CVD unter Behandlung mit einem Statin: 0,94
(95%-Konfidenzintervall = CI: 0,86-1,04) und für die
Gesamtletalität 0,98 (CI: 0,91-1,05); Patienten im Alter
von ≥ 85 Jahren (n = 743): HR: 0,93 und
0,97 respektive. Die Unterschiede waren jeweils nicht signifikant.
In den Kohorten mit
DM2 war ein Nutzen der
Statin-Einnahme erkennbar: Patienten im Alter von 75-84 Jahren
(n = 1.756): HR für das Auftreten einer CVD unter
Behandlung mit einem Statin: 0,76 (CI: 0,65-0,89) und für
die Gesamtletalität 0,84 (CI: 0,75-0,94). Die Unterschiede
waren jeweils signifikant. Die errechnete Number Needed To Treat
(NNT) war jedoch hoch: zur Verhinderung eines CVD 164 und für
einen Todesfall 306. Bei den Diabetikern ≥ 85 Jahre
(n = 201) betrug die HR 0,82 und 1,05 respektive (nicht
signifikant).
Bei
der Analyse „HR pro Lebensjahr“ zeigte sich bei den
Diabetikern ein mit zunehmendem Lebensalter abnehmender Nutzen. Ein
statistisch gesicherter Nutzen hinsichtlich CVD und Letalität
verliert sich etwa ab dem Alter von 85 Jahren.
Die
Verwendung von Statinen war offenbar nicht mit einem erhöhten
Risiko für Myopathien, Lebertoxizität oder neu auftretendem
DM2 assoziiert, wobei dies auch in einer unzureichenden Dokumentation
der Diagnosen in den elektronischen Krankenakten begründet sein
könnte. Zudem treten ja viele der Statin-Nebenwirkungen
dosisabhängig auf (z.B. Myopathien) und die verwendeten Dosen
waren hier eher niedrig. Nach neu aufgetretenen Demenzen, eine
Nebenwirkung, die den Statinen auch immer wieder zugeschrieben wird,
wurde nicht explizit gesucht.
Diese
mit öffentlichen Geldern finanzierte Registerstudie liefert
keine zusätzlichen Antworten, sie wirft unbeantwortete Fragen
erneut auf. Die Autoren weisen darauf hin, dass sie, obwohl die
Behandlung mit Statinen in der untersuchten Population nach den
meisten der aktuell gültigen Leitlinien zur Prävention
korrekt war, keinen bzw. nur einen geringen Nutzen bei Diabetikern
nachweisen konnten. In Anbetracht der fehlenden Evidenz und der
negativen Ergebnisse der PROSPER-Studie seien die
Leitlinien-Empfehlungen zur Primärprävention bei Menschen
> 75 Jahre wahrscheinlich unangemessen. Insbesondere die
Validität gängiger Risikorechner zur Entscheidungsfindung,
ob eine Therapie begonnen wird oder nicht, wird stark in Frage
gestellt, da diese auf den Daten jüngerer Patienten beruhen und
die Besonderheiten des Alters nicht berücksichtigen
(Multimorbidität, Multimedikation, andere Gewichtung von
Risikofaktoren, kürzere Lebenserwartung usw.). Die Entscheidung
über eine Statin-Prävention bei älteren Menschen lasse
sich wahrscheinlich überhaupt nicht allgemein formulieren,
sondern sei allenfalls sehr individualisiert möglich.
Die Ergebnisse dieser
Beobachtungsstudie lassen den Schluss zu, dass es bei älteren
Nicht-Diabetikern sinnvoll sein kann, im Rahmen des „Deprescribing“
Statine für die Primärprävention abzusetzen oder nicht
neu zu verordnen, es sei denn, ein Patient gehört mit sehr hohen
LDL-Werten zu einer besonderen Risikogruppe. Es sei noch an eine
kleine randomisierte
kontrollierte Studie erinnert, über die wir 2015 berichtet haben
(4, 5).
Darin konnte gezeigt werden, dass Statine bei multimorbiden, älteren
Patienten mit einer geschätzten Lebenserwartung von unter einem
Jahr gefahrlos abgesetzt werden können.
Ein weiterer wahrscheinlich sehr
wichtiger Aspekt, der in der Studie leider nicht untersucht wurde,
ist die Therapieadhärenz. Diese ist bekanntlich bei Statinen im
„realen Leben“ nicht sehr hoch. Nach einer Studie aus dem
Jahre 2002 betrug sie bei älteren Menschen in der
Primärprävention nur 25,4% (6). Möglicherweise
profitieren ja die Statin-adhärenten alten Menschen doch von
einer Behandlung? Es gäbe also viel zu klären. Dass auch
über 30 Jahre nach Einführung der Statine immer noch
keine RCT zum Nutzen und den Risiken dieser Wirkstoffklasse bei
dieser großen und stetig wachsenden Patientengruppe vorliegen,
ist aus unserer Sicht sehr unbefriedigend. Immerhin läuft
derzeit in Australien ein RCT mit dem Akronym STAREE (STAtin
therapy for Reducing
Events
in the Elderly),
in die Patienten > 70 Jahre mit Atorvastatin oder
Plazebo behandelt werden. Die Ergebnisse werden jedoch frühestens
2020 erwartet (7, 8).
Fazit:
Register-Daten aus Spanien zeigen, dass eine neu begonnene
Primärprävention mit Statinen bei Menschen > 75 Jahren
ohne Typ-2-Diabetes nicht mit einer Reduktion kardiovaskulärer
Ereignisse und Letalität assoziiert ist. Nur bei
Typ-2-Diabetikern im Alter von 75-84 Jahren scheinen sich
Statine günstig auf die Inzidenz atherosklerotischer
Herz-Kreislauf-Erkrankungen auszuwirken. Die Effekte bei den
Diabetikern waren jedoch gering und ab dem 85. Lebensjahr nicht
mehr nachzuweisen. Aufgrund dieser Befunde sollte die weit
verbreitete Neuverordnung von Statinen bei älteren Menschen ohne
manifeste kardiovaskuläre Krankheiten unterbleiben.
Literatur
- Shepherd,
J., et al. (PROSPER = PROspective
Study
of Pravastatin
in the Elderly
at Risk):
Lancet 2002, 360,
1623.
-
AMB
2002, 36,
91
. AMB 2003,
37,
15b.

- Ramos,
R., et al.: BMJ. 2018, 362,
k3359.
- Kutner,
J.S., et al.: JAMA Intern. Med.
2015, 175,
691.
-
AMB
2015,
49,
38.

- Jackevicius,
C.A., et al.: JAMA 2002, 288,
462.
-
https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT02099123

- Gurwitz,
J.H., et al.: JAMA 2016, 316,
1971.
|