DER ARZNEIMITTELBRIEF
hatte in seinen Hauptartikeln der April- und Mai-Ausgabe zur
medikamentösen Therapie bei COVID-19 ausführlich berichtet
über die bisher vorliegenden Ergebnisse – meist aus
Beobachtungsstudien – zur Wirksamkeit und Sicherheit von
Remdesivir, Chloro- bzw. Hydroxychloroquin (CQ, HCQ) und die
Kombination von Lopinavir plus Ritonavir (1). Inzwischen liegen
weitere Ergebnisse vor aus Beobachtungsstudien und auch
randomisierten, kontrollierten Studien („randomized controlled
trials“ = RCT) vor, die leider wenig Anlass zum Optimismus
geben und die bisher auch nicht zur (beschleunigten) Zulassung eines
Arzneimittels in Europa geführt haben – weder als
Prophylaxe noch als Therapie der manifesten COVID-19-Erkrankung.
Chloroquin,
Hydroxychloroquin:
Auf die unzureichende Beachtung der wissenschaftlichen Standards in
einigen dieser klinischen Studien und vorschnelle Verbreitung
positiver Studienergebnisse über Preprint-Server – ohne
fachkundiges und sorgfältiges Peer-Review-Verfahren –
hatten wir bereits berichtet (1). Wie wichtig die gründliche
Begutachtung klinischer Studien ist, verdeutlicht eindrucksvoll die
Analyse eines multinationalen Registers, das Ergebnisse aus
671 Krankenhäusern in 6 Kontinenten enthält.
Insgesamt wurden 96.032 im Krankenhaus behandelte Patienten mit
COVID-19 in diesem Register ausgewertet, von denen 1.868 CQ,
3.783 CQ mit einem Makrolid-Antibiotikum, 3.016 HCQ und
6.221 HCQ mit einem Makrolid-Antibiotikum erhielten. Als
Kontrollgruppe dienten 81.144 Patienten. Die Auswertung dieser
Registeranalyse ergab keinen Nutzen von CQ oder HCQ mit oder ohne
Makrolid-Antibiotikum, war jedoch assoziiert mit einem verkürzten
Überleben dieser Patienten sowie dem häufigeren Auftreten
von ventrikulären Arrhythmien während des
Krankenhausaufenthalts (2). Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung
dieser Analyse wurde von den Herausgebern des Lancet ein „expression
of concern“ publiziert (3), da gravierende Zweifel an der
unabhängigen Überprüfung der Herkunft und Validität
der Daten bestanden. Darüber hinaus haben in einem offenen Brief
an die Autoren der Lancet-Studie und den Herausgeber von Lancet
(R. Horton) insgesamt 149 Wissenschaftler gewichtige
Bedenken geäußert an der Methodik und Integrität der
Daten dieser Registeranalyse und ihre Kritik in insgesamt 10 Punkten
zusammengefasst (4).
Inzwischen wurde diese
Publikation im Lancet von den 4 Autoren zurückgezogen, da
der zuständige Dienstleister für die Erhebung und
Auswertung der Daten mit Hilfe von „Big Data“
(Surgisphere) weder externen Gutachtern noch den Ko-Autoren Rohdaten
zur Verfügung stellen wollte (5). Surgisphere, ein eher kleines
(11 Mitarbeiter), 2008 gegründetes US-amerikanisches
Unternehmen für Gesundheitsanalytik, hat seine Position zu der
zurückgezogenen Lancet-Studie inzwischen online publiziert.
Daraufhin wurde auch die zwischenzeitlich unterbrochene Rekrutierung
von Patienten mit COVID-19 in den HCQ-Arm der WHO-Studie
(„Solidarity“) wieder aufgenommen (7).
Dasselbe Schicksal –
„expression of concern“ (8) und Rückruf der
Publikation – ereilte die von uns bereits besprochene und im N.
Engl. J. Med. Anfang Mai 2020 publizierte Beobachtungsstudie aus
Boston, in der die bereits bekannte erhöhte Sterblichkeit von
Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen an COVID-19 im
Krankenhaus bestätigt wurde, ohne dass ein Zusammenhang mit der
Einnahme von ACE-Hemmern und Angiotensin-II-Rezeptor Blockern belegt
werden konnte (9, 10). Bei beiden Studien handelt es sich um
„Big Data“-Studien, in denen retrospektiv Krankenakten
ausgewertet wurden. Sie sind deshalb aus unterschiedlichen Gründen
sehr anfällig für Verzerrungen und ihre Ergebnisse liefern
meist nur schwache Evidenz für die aus den Studiendaten
abgeleiteten Aussagen (11).
Ein Anfang Juni 2020 im
N. Engl. J. Med. von Autoren an der Universität in Minnesota
(USA) publiziertes, doppelblindes und plazebokontrolliertes RCT (12)
untersuchte erstmals den therapeutischen Stellenwert von HCQ in der
Prophylaxe gegen COVID-19 bei 821 asymptomatischen Erwachsenen, die
ohne Einhaltung der entsprechenden hygienischen Maßnahmen (z.B.
Tragen einer Maske oder eines Augenschutzes), Kontakt hatten (Distanz
weniger als 6 feet, entspricht ca. 1,85 m, über mehr als
10 Minuten) zu einer Person mit bestätigter
COVID-19-Erkrankung. Innerhalb von 4 Tagen nach dieser
Exposition erhielten die Teilnehmer nach Randomisierung entweder
Plazebo oder HCQ (einmalig 800 mg, gefolgt nach 6-8 Stunden
von 600 mg und anschließend 600 mg täglich für
weitere 4 Tage). Primärer Endpunkt dieses RCT war die
Inzidenz von COVID-19, bestätigt durch ein Laborergebnis oder
das Auftreten einer mit COVID-19 zu vereinbarenden Erkrankung
innerhalb von 14 Tagen. Diese Studie ergab keinen Hinweis
darauf, dass HCQ das Auftreten von COVID-19 signifikant vermindert:
mit COVID-19 zu vereinbarende Erkrankung unter HCQ bei 49 von
414 Teilnehmern = 11,8% versus unter Plazebo bei 58 von 407
Teilnehmern = 14,3%; p = 0,35). Verschiedene Limitationen
dieser Studie werden in einem Editorial im N. Engl. J. Med.
angesprochen und zu Recht die Frage gestellt, welche Bedeutung diese
Ergebnisse haben für klinische Entscheidungen, aber auch für
die in ClinicalTrials.gov gelisteten weiteren 203 COVID-19-Studien
mit HCQ, darunter 60 Studien zur Prophylaxe (13). Aus Sicht
eines renommierten Mikrobiologen und Immunologen aus den USA liefert
die Studie von Boulware et al. mehr „provokative als definitive
Ergebnisse“ und weitere Studien werden benötigt, um den
potenziellen Nutzen von HCQ zur Prävention von COVID-19 zu
beurteilen. Diese Einschätzung gilt allerdings aus unserer Sicht
für fast alle bisher publizierten klinischen Studien zur
Prophylaxe bzw. Behandlung von COVID-19, vor allem mit CQ oder HCQ,
und stimmt überein mit der bereits von uns und Anderen
ausgesprochenen Empfehlung: „Angesichts der unzureichenden
Erkenntnisse zur Wirksamkeit von CQ oder HCQ und Bedenken
hinsichtlich ihrer Toxizität sollten diese Wirkstoffe zur
Prophylaxe oder Behandlung von Patienten mit COVID-19 derzeit nicht
außerhalb kontrollierter klinischer Studien eingesetzt werden“
(14-16). Aktuelle Ergebnisse zur Behandlung mit HCQ im Rahmen der
RECOVERY-Studie, die an 175 britischen Kliniken an mehr als
11.000 Patienten mit COVID-19 durchgeführt wurde, zeigen
ebenfalls keinen klinischen Nutzen von HCQ, woraufhin dieser Arm der
RECOVERY-Studie Anfang Juni 2020 geschlossen wurde (17).
Die Europäische
Arzneimittel-Agentur (EMA) hat am 29.5.2020 ausdrücklich an die
Risiken von CQ und HCQ erinnert und darauf hingewiesen, dass als
Nebenwirkungen neben den lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen
vor allem auch neuropsychiatrische Erkrankungen (von Agitation und
Krampfanfällen bis hin zu Suizidgedanken) unter CQ bzw. HCQ
auftreten können (18).
Remdesivir:
Wir sind anhand der Pressemitteilungen von Gilead und den National
Institutes of Health (NIH) bereits auf die Ergebnisse eingegangen der
ersten doppelblinden, randomisierten, plazebokontrollierten Studie zu
Remdesivir bei hospitalisierten Patienten mit Nachweis für eine
Infektion der unteren Atemwege (19). Inzwischen wurden diese
Ergebnisse als vorläufiger Bericht im N. Engl. J. Med. (20)
publiziert und auch in einem Leitartikel unter dem Motto: „Remdesivir
– ein wichtiger erster Schritt“ kommentiert (21).
Insgesamt 1.063 Patienten mit einem mittleren Alter von
59 Jahren erhielten nach Randomisierung entweder Remdesivir
(200 mg i.v. an Tag 1 gefolgt von 100 mg i.v. an 9
weiteren Tagen) oder Plazebo. Der primäre Endpunkt (Zeit bis zur
Erholung bis Tag 29) wurde anhand einer üblichen Skala mit
8 Kategorien definiert, von denen 3 Kategorien (1. nicht
mehr hospitalisiert und keine Einschränkung der Aktivitäten
oder 2. Einschränkung der Aktivitäten noch vorhanden oder
3. hospitalisiert ohne Bedarf an zusätzlichem Sauerstoff)
erfüllt werden mussten. Die Zeit bis zur Erholung betrug unter
Remdesivir 11 Tage und unter Plazebo 15 Tage (p < 0,001).
Die Überlebenskurven nach Kaplan-Meier unterschieden sich nach
14 Tagen nicht signifikant (Remdesivir: Mortalität 7,1%
versus Plazebo: 11,9%) und vor allem bei Patienten mit schweren
Krankheitsverläufen (Bedarf an zusätzlichem Sauerstoff bzw.
mechanischer Beatmung) konnte Remdesivir die Mortalität nicht
deutlich senken. Unerwünschte Ereignisse (Grad 3 oder 4)
traten bei 156 der mit Remdesivir behandelten Patienten (28,8%) auf
und bei 173 Patienten in der Plazebogruppe. Häufigste
unerwünschte Ereignisse unter Remdesivir waren Einschränkung
der Nierenfunktion, Hyperglykämie und Anstieg der Transaminasen.
Sowohl der Leitartikel zu dieser Studie als auch ein kritischer
Kommentar im BMJ betonen, dass es sich um Ergebnisse einer
Interimsanalyse handelt, die nicht eindeutig sind, und die
vollständige statistische Auswertung der gesamten
Studienpopulation abgewartet werden muss. Der geschäftsführende
Schriftleiter vom BMJ bezeichnete die frühzeitige Publikation im
N. Engl. J. Med. sogar als einen Triumph der Hoffnung und
wahrscheinlich des Marketings über aussagekräftige
Ergebnisse (22).
Angesichts dieser noch
vorläufigen Ergebnisse kam für viele Experten die
Ankündigung des geschäftsführenden Direktors der EMA
(Guido Rasi) am 18.5.2020 vor dem Europäischen Parlament doch
sehr überraschend (23), dass für Remdesivir innerhalb
weniger Tage eine beschleunigte (bedingte) Zulassung („conditional
marketing authorization“) bewilligt werden könnte
(24, 25). Der wissenschaftliche Fachausschuss der EMA hat
anlässlich seiner Sitzung vom 25.-28.5.2020 mitgeteilt, dass als
nächster Schritt neben weiteren Daten aus klinischen Studien
auch ein Antrag auf bedingte Zulassung von Gilead gestellt werden
müsse, über den dann nach gründlicher Bewertung von
Nutzen und Risiken dieses Arzneimittels entschieden würde.
In einer weiteren
aktuellen Publikation im N. Engl. J. Med. wurde anhand einer offenen
randomisierten Phase-III-Studie bei nicht beatmungspflichtigen
Patienten mit einer Sauerstoffsättigung ≤ 94% und
radiologischem Nachweis einer Pneumonie gezeigt, dass sich eine i.v.
Gabe von Remdesivir über 5 Tage (Dosierung wie in der
Studie des NIH) hinsichtlich des primären Endpunkts (klinischer
Status an Tag 14) nicht signifikant unterscheidet von einer i.v.
Gabe über 10 Tage (26). Da diese Studie keine
Plazebo-Kontrolle enthielt, konnte eine Aussage zum Ausmaß des
Nutzens von Remdesivir jedoch nicht gemacht werden.
Eine laufend
aktualisierte Übersicht über medikamentöse
Therapieansätze bei COVID-19 mit Tabellen zu allen momentan
diskutierten antiviralen und immunmodulatorisch wirkenden
Arzneimitteln sowie Hinweisen auf die derzeit initiierten klinischen
Studien bzw. Register und Übersichtsarbeiten zu COVID-19 findet
sich auf der Homepage der Arzneimittelkommission der deutschen
Ärzteschaft (28). Ausführliche Informationen zu COVID-19,
einschließlich medikamentöser Behandlungen und Entwicklung
von Impfstoffen hat auch die EMA veröffentlicht (29). Angesichts
der inzwischen häufig beschriebenen Qualitätsmängel in
klinischen Studien zur medikamentösen Therapie von COVID-19
unterstützt DER ARZNEIMITTELBRIEF ausdrücklich –
ebenso wie die Bundesärztekammer und Cochrane Deutschland –
den in einem offenen Brief an die EMA vom Institut für Qualität
und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) geäußerten
Appell, alle klinischen Studienberichte (Clinical Study Reports) zu
allen COVID-19-Arzneimitteln sowie Impfstoffen gegen COVID-19
unmittelbar nach der Marktzulassung zu veröffentlichen (30).
Fazit:
Auch Anfang Juni 2020 ist in Europa kein Arzneimittel für die
Behandlung von COVID-19 zugelassen. Erste Ergebnisse der
internationalen randomisierten kontrollierten Studien mit adaptivem
Design (Solidarity, Discovery, Recovery; vgl. 27) werden deshalb
mit Spannung erwartet. Weder für Chloroquin noch für
Hydroxychloroquin konnte in den bisher vorliegenden klinischen
Studien ein klinischer Nutzen in der Prophylaxe oder Behandlung von
COVID-19 nachgewiesen werden, jedoch wurde wiederholt über
schwere Nebenwirkungen berichtet. Die Möglichkeit einer
beschleunigten Zulassung von Remdesivir halten wir derzeit aufgrund
der Ergebnisse der ACTT-1-Studie der NIH (20) für verfrüht
und nicht gerechtfertigt (23). Besorgniserregend sind die Vorgänge
um zwei inzwischen zurückgezogene Publikationen, die auf
offenbar gefälschten Ergebnissen zu Patienten mit COVID-19 von
einer kleinen Datenanalysefirma aus Chicago basieren und trotzdem von
renommierten medizinischen Fachzeitschriften zur Publikation
angenommen wurden (31). Sie verdeutlichen die deletären Folgen,
die in Zeiten von COVID-19 ökonomische Interessen von
Unternehmen und Profilierungsdrang von Medizinern für die
Generierung solider Evidenz haben können.
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