20.03.2013 Pressemitteilung
Medizinische Leitlinien an der Leine der Pharmaindustrie
Wenn ein neues Medikament auf den Markt kommt, dann
bemühen sich die pharmazeutischen Unternehmen (pU), dass es möglichst rasch in
die Behandlungs-Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften aufgenommen
wird. Gelingt das, sind hohe Umsätze garantiert. In letzter Zeit ist zu
beobachten, dass neue Medikamente schon kurze Zeit nach ihrer Zulassung in den
Leitlinien auftauchen. Das widerspricht jeglicher klinischen Erfahrung, denn
die Risiken und Schäden neuer Arzneimittel bei der Verordnung in der
alltäglichen Praxis werden oft erst 2-3 Jahre nach ihrer Zulassung bekannt.
Dies war z.B. bei dem Antiarrhythmikum Dronedaron der Fall. Das unter dem
Handelsnamen Multaq® Ende 2009 in der EU zugelassene Arzneimittel
wurde schon im August 2010 von der europäischen Gesellschaft für Kardiologie
(ESC) mit dem höchsten Empfehlungsgrad (1A) als Mittel der Wahl zur Rhythmuskontrolle
bei paroxysmalem oder persistierendem Vorhofflimmern empfohlen. 2011 wurde
bekannt, dass es unter Therapie mit Dronedaron vermehrt zu Leberschäden kommt.
Im August 2012 bewertete die ESC in einem Update ihrer Leitlinien Dronedaron
nun nur noch als „moderat effektiv“ und fügte zwei bemerkenswerte Sätze hinzu:
„the choice of an antiarrhythmic drug should be driven by the perceived safety
of the drug. This is more important than perceived efficacy“ (1).
Im gleichen Update wurden die erst kurz zuvor für die
Indikation „Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern“ zugelassenen neuen
oralen Gerinnungshemmer Apixaban (Eliquis®), Rivaroxaban (Xarelto®)
und Dabigatran (Pradaxa®) auf die gleiche Empfehlungsstufe (1A)
gehoben wie die seit Jahrzehnten etablierten Vitamin-K-Antagonisten (1). War
der Druck der pU auf die ESC so groß, dass man von den eigenen Vorgaben, nämlich
die Sicherheit in den Vordergrund zu stellen, gleich wieder abgewichen ist? Im
Falle von Eliquis® kam die 1A-Empfehlung sogar drei Monate vor
der Zulassung für diese Indikation.
Aber nicht nur Fachgesellschaften, sondern auch
medizinische Experten unterliegen dem „Zeitgeist“ oder dem mehr oder weniger
subtilen Einfluss der pU. Viele der an den Leitlinien beteiligten Wissenschaftler
forschen mit finanzieller Unterstützung der Industrie oder beziehen von ihr Vortrags-
oder Beraterhonorare. Dadurch entsteht eine Abhängigkeit, die bewusst oder
unbewusst zu einer günstigeren Beurteilung eines Arzneimittels führen kann. Es
kann auch sein, dass Experten durch tendenziöse Publikationspraktiken getäuscht
werden, denn im Sinne der pU negativ ausgefallene Studien werden häufig nicht
veröffentlicht oder im Nachhinein mit statistischen Tricks positiv gerechnet (2).
Umso wichtiger ist es, dass sehr viel mehr auf die
Qualität von Leitlinien geachtet wird. Das Deutsche Institut für Qualität und
Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiQ) hat vor zwei Jahren insgesamt 35
Leitlinien zum Management von Typ-2-Diabetes in den westlichen
Industrienationen mittels des „Appraisal of Guidelines for Research &
Evaluation“ (AGREE)-Instruments untersucht (3, 4) und große Defizite
gefunden. Die größten Mängel bestanden bei der Beteiligung von
Interessengruppen und einer klaren Definition von Zweck und Geltungsbereich der
Leitlinie. Ein weiteres gravierendes Problem war die fehlende Unabhängigkeit
der Autoren. Personen mit bedeutsamen Interessenkonflikten hinsichtlich der
beurteilten Therapien und Methoden sollten aus Leitliniengruppen generell
ausgeschlossen werden (5).
DER ARZNEIMITTELBRIEF ist für die Verwendung von
Leitlinien, wenn sie auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen
beruhen, zum Wohle der Patienten und nicht der pharmazeutischen Unternehmer
erstellt wurden und darüber hinaus auch ökonomische Aspekte berücksichtigen.
Ärzte sollen sich dann an Leitlinien halten, wenn diese anerkannte
Qualitätsstandards erfüllen (6).
Quellen
- Camm, J., et al.: European Heart Journal 2012, 33, 2719.
- AMB 2008, 42, 79.
- https://www.iqwig.de/download/V09-04_Abschlussbericht_Leitlinienrecherche_und-bewertung_fuer_das_DMP_Diabetes_mellitus_Typ_2.pdf
- http://www.agreetrust.org/
- Lo, B., et al.: Conflict of interest in medical research, education and practice. The National Academies Press, Washington 2009.
- AMB 2013, 47, 24DB01.
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