Das neue „Severe Acute Respiratory Syndrome Coronavirus 2“ wird nun offiziell mit SARS-CoV-2 abgekürzt, und die dadurch verursachte Erkrankung trägt den Namen COVID-19. In unserem Hauptartikel vom Februar 2020 (1), der im Wesentlichen auf den ersten Meldungen und Publikationen aus China beruhte, sind wir von einer „Fallsterblichkeit“ („fatality rate“) von ca. 2% ausgegangen. Bei dem bisherigen Verlauf in Deutschland mit hoher Dunkelziffer wird aber die Fallsterblichkeit wahrscheinlich niedriger liegen – bei allen prognostischen Unsicherheiten. Nach einer aktuellen Modellrechnung des Robert Koch-Instituts (RKI) beträgt der Anteil schwerer Verläufe 4,5% bei den bekannten Risikofaktoren und die Letalität 0,56% (7). Es gibt jedoch auch Schätzungen, dass diese Werte in erster Linie für Infizierte > 50 Jahre oder mit schweren Begleiterkrankungen gelten und bei allen Übrigen deutlich niedriger sind. Zu dieser Einschätzung kommt auch der kritische und von uns schon mehrfach zitierte amerikanische Epidemiologe John P.A. Ioannidis (2).
Zu einem hoffentlich günstigeren als dem befürchteten Verlauf werden auch die inzwischen ständig steigende Immunität in der Gesamtbevölkerung, einschließlich der stillen Feiung (Herdenimmunität) als Folge der raschen großflächigen Ausbreitung des Virus, die Adaptation des Virus an seinen neuen Wirt und die umfassenden Bemühungen in unserem Gesundheitswesen beitragen. Ob letztere die Gesamtsterblichkeit aus allen Ursachen sogar stärker erhöhen als die Zahl der Toten durch COVID-2 zu senken, werden wir möglicherweise erst nach Monaten sehen. Ein schnelleres Umschalten auf gezieltere Maßnahmen ist notwendig (15).
Über die Gründe der extrem hohen Fallsterblichkeit in Italien und Spanien gibt es mehrere Spekulationen, aber keine einzelne schlüssige Erklärung. Möglicherweise haben dabei zusammengewirkt eine zunächst völlig unterschätzte, besonders zahlreiche primäre Einschleppung, eine raschere Ausbreitung durch das in diesen Ländern übliche engere Zusammenwohnen mit Eltern und Großeltern und eine geringe Zahl an Intensivbetten in den regionalen Krankenhäusern (s. auch 3). Hinzukommt, dass – anders als in Deutschland – in Italien inzwischen alle Verstorbenen auf das SARS-CoV-2 getestet werden. Dies hat zur Folge, dass die Fallsterblichkeit in der italienischen Statistik höher ist als in anderen Ländern. Außerdem wird ein Todesfall auch dem SARS-CoV-2 fest zugerechnet unabhängig davon, ob es den Tod verursacht oder eine Grunderkrankung verschlimmert hat.
Derzeit steigt aber auch in Deutschland und Österreich die Zahl der Infizierten noch exponentiell an. Diese Phase ist wegen der akuten Belastung des Gesundheitssystems durch schwer Erkrankte besonders ernst. Auch das System der Testungen auf SARS-CoV-2 ist momentan völlig überlastet. Bei Verdachtsfällen, die möglicherweise isoliert werden müssen, beträgt die Wartezeit auf das Testergebnis durchschnittlich noch 3 Tage. Das zeigt, dass auch unsere Gesundheitssysteme an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen und wir deshalb auch keine Informationen über die „Real-time-Situation“ haben. Flächendeckende Testungen auf SARS-CoV-2 sind derzeit nicht möglich, und validierte Tests auf spezifische Antikörper, die bei breiter Suche eine verlässlichere Auskunft über das tatsächliche Ausmaß der Durchseuchung in der Bevölkerung einschließlich der stillen Feiung geben, stehen noch nicht zur Verfügung. Diese Zahlen wären die bessere Bezugsgröße für die Fallsterblichkeit. Alle epidemiologischen Daten sind bisher mehr oder weniger gute Annäherungen an das tatsächliche Geschehen.
Es ist offensichtlich, dass die Pandemie in Deutschland und Österreich noch lange nicht im Griff ist. Wir werden mit einem weiteren deutlichen Anstieg an Infizierten rechnen müssen. Die derzeit ergriffenen Maßnahmen zur Eindämmung werden die Ausbreitung bestenfalls verzögern. Das universelle von vielen Regierungen verhängte Kontaktverbot ist eine extreme Maßnahme, deren Wirksamkeit sich erst noch erweisen muss. Eine solche Abschottung scheint uns allenfalls ganz am Anfang einer Epidemie erfolgreich, wenn sich die Infektion noch nicht weit verbreitet hat und eine überschaubare Zahl von Infizierten sowie ihre Kontaktpersonen identifiziert und isoliert werden können. Ob die ergriffenen rigorosen Maßnahmen tatsächlich helfen werden, die Arztpraxen und besonders die Krankenhäuser zu entlasten, wird sich im Vergleich mit anderen Ländern zeigen, die einen anderen Weg gehen, z.B. Schweden. Dort wurde bisher keine strenge Abschottung der Bevölkerung verordnet (4). Allerdings sind Vergleiche von Land zu Land wegen unterschiedlich starker Besiedelung, anderer Lebensgewohnheiten sowie verschiedener Gesundheitssysteme problematisch. Ein maßvolleres Handeln mit Schwerpunkt beim Schutz der am meisten Gefährdeten ist nach unserer Einschätzung auf lange Sicht medizinisch und gesellschaftlich vernünftiger, denn es ist besser umzusetzen und auch leichter wieder zu lockern. Außerdem vermindert es während und nach der Pandemie die mit dem „Shutdown“ verknüpften ökonomischen Bedrohungen und psychosozialen Verwerfungen.
Die Verordnung der einschneidenden Isolierungsmaßnahmen durch die politischen Entscheidungsträger wurde angetrieben durch Experten, die eine hypothetisch extrem hohe Zahl von Todesfällen voraussagten und ein völliges Zusammenbrechen des Gesundheitssystems befürchteten (5). Die Pandemie sollte zwar sehr ernst genommen werden, aber ohne in öffentlichen Stellungnahmen übertriebene Angst zu verbreiten. Alle sollten sich mit der Veröffentlichung unsicherer und möglicherweise übertriebener Schätzungen von gesundheitlichen Schäden und Todesfällen sehr zurückhalten. Der Epidemiologe Prof. Dr. S. Bhakdi richtet in einem offenen Brief fünf kluge Fragen zur Einschätzung der Infektionssituation und zur Abwägung der Isolationsmaßnahmen an die Bundeskanzlerin; die Antworten darauf wären für alle von uns wichtig (18).
Die im Krankenhaus zu versorgenden Patienten mit schweren COVID-19-Symptomen werden in den nächsten Wochen durch die Verbreitung des Virus weiter zunehmen, und auch unsere vergleichsweise guten Gesundheitssysteme an seine Kapazitätsgrenzen führen. Auf Ärzte und Pflegekräfte warten enorme Herausforderungen, Belastungen und Gefahren. Diese ergeben sich nicht zuletzt aus dem unverständlichen Mangel an Desinfektionsmitteln, wirksamen Masken und Schutzanzügen zum Selbstschutz und der schon lange angeprangerten personellen Unterbesetzung. Über diese gravierenden Mängel und ihre künftige Beseitigung wird nach der Pandemie offen und ausführlich zu sprechen sein.
Seit einigen Wochen ist in vielen Kliniken Notbetrieb. Patienten können nicht mehr optimal versorgt werden, Besuche von Angehörigen sind erschwert und ernste Erkrankungen werden verzögert diagnostiziert und behandelt, weil jetzt die Patienten mit Fieber und Beschwerden seitens des Respirationstrakts alle Ressourcen beanspruchen. Der Kontakt ambulanter Patienten ohne COVID-19-Verdacht mit ihren Hausärzten ist durch die Isolierungsmaßnahmen deutlich erschwert, was gerade für ältere multimorbide Patienten bedenkliche Folgen haben kann. Die Antwort auf die durchaus zu stellende Frage, wodurch am Ende mehr Patienten gerettet oder gefährdet wurden, ist völlig offen, aber wichtig.
Auf der Basis gegenwärtiger Zahlen werden in den nächsten Wochen in Deutschland möglicherweise mehrere Tausend zusätzliche Beatmungsplätze benötigt. Nach den Erfahrungen aus Italien werden COVID-19-Patienten ca. 3 Wochen beatmet, wobei dennoch ein Drittel bis zur Hälfte dieser Patienten stirbt, solange keine spezifische Therapie zur Verfügung steht (vgl. 6). Daher wäre es auch hilfreich, die Beatmungsindikation schon im Vorfeld mit den älteren und multimorbiden Patienten anzusprechen und ggf. in Form einer Patientenverfügung zu dokumentieren. Verschiedene intensivmedizinische Fachgesellschaften haben jüngst auch klinisch-ethische Empfehlungen publiziert zur Entscheidung über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie (8, 14). Diese Empfehlungen sind für alle Behandelnden sicher informativ und auch hilfreich, um die Last der anfallenden Entscheidungen besser zu tragen.
Der Deutsche Ethikrat hält die derzeitigen massiven staatlichen Freiheitsbeschränkungen zwar momentan für gerechtfertigt, fordert aber in einer Ad-hoc-Empfehlung vom 27.3.2020 die Politik auf, diese Regelungen kontinuierlich mit Blick auf die gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Folgen zu prüfen und möglichst bald schrittweise zu lockern (vgl. 15).
Eine besondere Herausforderung bei der hausärztlichen Versorgung ergibt sich daraus, dass ein Teil der SARS-CoV-2-infizierten Patienten zunächst ca. 8 Tage relativ milde Symptome hat, sich dann aber innerhalb von Stunden respiratorisch verschlechtert und rasch intubiert und beatmet werden muss. Patienten, die mit milden Symptomen zu Hause bleiben, benötigen deswegen eine gute Aufklärung und auch eine enge ärztliche Überwachung. Diese kann wahrscheinlich auch telefonisch oder über Videotelefonie erfolgen.
Neben der Herdenimmunität könnte eine wirksame und verträgliche Impfung die Pandemie eindämmen. Mehr als 50 Hersteller, Institutionen und Projektgruppen arbeiten – teils im internationalen Verbund – intensiv an Impfstoffen mit unterschiedlichen Antigenen, auch solchen, die auf gentechnisch hergestellten COVID-19-Proteinen basieren (9). Früher als in einem Jahr werden die Impfstoffe aber vermutlich nicht zur Verfügung stehen. Die WHO würde einen Impfstoff, der in den nächsten 18 Monaten zur Verfügung steht, sogar als historischen Erfolg einstufen (10).
Auch Antikörper, die aus dem Blut von SARS-CoV-2-Genesenen gewonnen werden, können hilfreich sein. Sie neutralisieren das Virus, indem sie das Andocken des Virus über sein Spike-Glykoprotein an die Wirtszellen blockieren. Solche Seren sind bereits bei ersten Patienten erfolgreich eingesetzt worden (11, 12), und die FDA hat diese Therapieform auch gerade zugelassen (17). Die Medizinische Hochschule Hannover ruft COVID-19-Genesene zur Plasmaspende auf (13). Soweit wir wissen, stehen solche Seren in Deutschland derzeit aber noch nicht zur Verfügung.
Aus dem derzeit begrenzten Wissen bereits verlässliche Prognosen hinsichtlich diagnostischer Aspekte von COVID-19, des epidemiologischen und klinischen Verlaufs, speziell der Fallmortalität zu erstellen, ist kaum möglich. Erste Modellberechnungen sind teils mit unzulänglichen Methoden durchgeführt worden (19), und die Ergebnisse können daher mehr schaden als nutzen. Solche Berechnungen sollten sich künftig mehr an den Empfehlungen des TRIPOD-Statements (Transparent ReportIng of a multivariable Prediction model for individual prognosis Or Diagnosis) orientieren, um nicht weitere Verwirrung zu stiften (20).
Fazit: Derzeit steigt die Zahl der mit SARS-CoV-2 Infizierten exponentiell an. Diese Phase einer Epidemie ist wegen der akuten Belastung des Gesundheitssystems durch schwer Erkrankte besonders ernst. Auch das System der Testung ist derzeit überlastet, weshalb es keine verlässlichen Informationen über die „Real-time-Situation“ gibt. Ob die derzeit ergriffenen Maßnahmen mit den starken Einschränkungen der persönlichen Freiheit tatsächlich wie erhofft zur Verzögerung der Pandemie beitragen und dadurch einen sehr schnellen Anstieg intensivpflichtiger Patienten vermindern, wird sich im Vergleich mit anderen Ländern zeigen, z.B. mit Schweden. Zu bedenken und abzuwägen sind aber auch die medizinischen, psychosozialen und ökonomischen Folgeschäden solcher Einschränkungen. Die Pandemie sollte zwar sehr ernst genommen werden, aber ohne generell Angst zu verbreiten. Alle, auch die Experten, sollten sich mit der Veröffentlichung ungesicherter Prognosen sehr zurückhalten. Nach Ansicht des Physikers und Philosophen E. Kaeser ist das eigentliche Problem der jetzigen Situation ein gefährlicher Mix aus „schlecht geeichten Gefühlen und begrenztem Wissen“ (16).