Unabhängig Arzneimittelinformation

AMB 2012, 46, 92

Endlich die Wunderpille gegen Übergewicht?

Im N. Engl. J. Med. nimmt die US-amerikanische Arzneimittelbehörde FDA zur kürzlich erfolgten Zulassung zweier Appetitzügler Stellung (1). Die Stellungnahme mutet wie eine Apologie an, da die klinischen Erfahrungen mit beiden Präparaten noch sehr begrenzt sind, Langzeitergebnisse komplett fehlen und auch die Sicherheitsdaten noch unzureichend sind. Die rasche Zulassung wird mit der Dringlichkeit begründet, eine effektive Therapie zu finden angesichts der sich ausweitenden Adipositas-Epidemie in den Vereinigten Staaten und weltweit.

Es handelt sich um den Wirkstoff Lorcaserin und die Kombination von Phentermin mit dem Antiepileptikum Topiramat. Für beide Präparate läuft auch das Zulassungsverfahren bei der EMA und bei Swissmedic.

Lorcaserin ist ein selektiver Serotonin-Rezeptor-Agonist (5-HT2c-Rezeptor) und ähnelt daher in seinem Wirkprinzip dem 1997 vom Markt genommenen (Dex)Fenfluramin, das aufgrund seiner gleichzeitigen Stimulation von 5-HT2b-Rezeptoren zu einer Valvulopathie führen konnte. Diese unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) ist nach dem derzeitigen Kenntnisstand unter Lorcaserin nicht beobachtet worden. Aber hilft das Mittel wirklich?

Die Zulassung der FDA stützt sich auf drei randomisierte kontrollierte Studien mit insgesamt mehr als 8.000 Patienten. In den ersten beiden Studien mit nicht-diabetischen adipösen Probanden wurde innerhalb eines Jahres durch zweimal 10 mg/d Lorcaserin eine im Vergleich zu Plazebo hochsignifikante Gewichtsreduktion erzielt: 5,8% des Ausgangsgewichts, Plazebo 2,5% (gepooltes Ergebnis; vgl. 2, 3 und Tab. 1). In der dritten, deutlich kleineren Studie wurden nur Diabetiker (n = 604) eingeschlossen (4). Die durchschnittliche Gewichtsreduktion betrug in dieser Studie 4,5% des Ausgangsgewichts bei Einnahme von zweimal 10 mg/d Lorcaserin (Plazebo 1,5%; vgl. Tab. 1).

Auf den ersten Blick klingen diese Ergebnisse vielversprechend. Aber nur in einer der drei Studien (3) wurde ein weiteres Jahr lang nachbeobachtet: 3.182 Patienten wurden für die Studie rekrutiert und anschließend randomisiert. Die Folgeuntersuchungen fanden nach zwei und vier Wochen und dann einmal im Monat statt. Die Auswertung erfolgte nach der Intention-to-treat-Methode mit „last available data carried forward“ für solche Probanden, die die Studie nicht weiterführten (Dropouts) bzw. für solche, von denen die Daten nicht erhältlich waren (Missing data). Nach einem Jahr waren nur noch 55,4% der Patienten der Lorcaserin-Gruppe (883 von 1.595) bzw. 45,1% der Plazebo-Gruppe (716 von 1.587) in der Studie. Die verbliebenen Patienten der Plazebo-Gruppe erhielten auch im zweiten Jahr weiter Plazebo. Die verbliebenen Patienten der Lorcaserin-Gruppe wurden zu Beginn des zweiten Jahres erneut randomisiert und erhielten entweder Plazebo oder weiter Lorcaserin. Am Ende des zweiten Jahres befanden sich nur noch 1.127 Patienten in der Studie. Von den Patienten, die im ersten Jahr ≥ 5% ihres Ausgangsgewichts abgenommen hatten (20,3% aller Patienten der Plazebo-Gruppe, 47,5% der Lorcaserin-Gruppe), konnten in der Plazebo-Gruppe nur 50,3% das Gewicht halten, während dies 67,9% der Verum-Patienten gelang (p < 0,001).

Wenn man versucht, diese verwirrenden Zahlen besser verständlich zu machen, kommt man zu der ernüchternden Erkenntnis, dass nur ein Bruchteil der Patienten einen allenfalls bescheidenen Nutzen durch den Appetitzügler hat: Von den 1.595 Patienten, die Lorcaserin erhielten, haben nur 883 das erste Studienjahr abgeschlossen. Betrachtet man den Gewichtsverlauf, zeigt sich, dass der größte Teil der Gewichtsreduktion im ersten Halbjahr erfolgte. Daher lässt die Methode „Last available data carried forward“ die Ergebnisse günstiger aussehen. In diesem Fall kommt die Per-protocol-Analyse der Wirklichkeit näher. Nach dieser Analysenart hatten 586 (66,4%) der nach einem Jahr noch in der Studie verbliebenen Lorcaserin-Patienten eine Gewichtsabnahme von ≥ 5% des Ausgangsgewichts. Da eine Einnahme über ein Jahr hinaus weder vom Hersteller noch von der FDA empfohlen wird, interessieren vor allem die Patienten, die nach einem Jahr deutlich, d.h. ≥ 5% des Ausgangsgewichts verloren hatten und im zweiten Jahr ohne weitere Medikation ihr niedrigeres Gewicht halten konnten. Dies gelang nur 50,3% der Patienten, die nach einem Jahr Lorcaserin-Einnahme auf Plazebo umgestellt wurden. Hochgerechnet auf die Gesamtzahl der Patienten, die nach einem Jahr Lorcaserin-Einnahme eine relevante Gewichtsreduktion erzielt hatten, wäre also mit etwa 295 (50,3% von 586) Patienten zu rechnen, die auch nach zwei Jahren noch von der Einnahme profitieren würden. Dies bedeutet, dass nur 18% der Patienten, die eine Lorcaserin-Behandlung begonnen hatten, nach zwei Jahren noch ein deutlich reduziertes Gewicht hätten.

Die Dropout- und Erfolgsraten der anderen beiden Lorcaserin-Studien sind ähnlich. Ob hier also von einem Durchbruch in der Therapie der Adipositas gesprochen werden kann, ist mehr als fraglich, denn es gibt keine Daten über den Zeitraum von zwei Jahren hinaus, weder zur Wirkung, noch zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) und Sicherheit. Es gibt natürlich auch keine Endpunkt-Daten, die zeigen, ob die Gewichtsabnahme unter dieser Behandlung tatsächlich Morbidität und Letalität senkt. Die Begründung der FDA für die beschleunigte Zulassung ist in diesem Lichte fadenscheinig.

Die häufigsten UAW waren (Lorcaserin vs. Plazebo): Kopfschmerzen 14,5% vs. 7,1%, Rückenschmerzen 11,7% vs. 7,9%, Nasopharyngitis 11,3% vs. 9,9%, Übelkeit 9,4% vs. 7,9%.

Alle drei Studien wurden vom Lorcaserin-Hersteller Arena Pharmaceuticals finanziert. Die unseres Erachtens vorschnelle Zulassung durch die FDA lässt einen erheblichen Industrie-Bias vermuten, obwohl alle FDA-Autoren des Artikels im N. Engl. J. Med. diesbezügliche Interessenkonflikte verneinen.

Für das zweite kürzlich in den USA zugelassene Kombinationspräparat aus Phentermin und Topiramat sieht die Datenlage ähnlich aus (vgl. Tab. 1). Es existieren zwei randomisierte kontrollierte Studien über ein Jahr (5, 6), wobei die eine ohne erneute Randomisierung ein zweites Jahr lang weitergeführt wurde (7). Betrachtet man letztere, so ist festzustellen, dass sich auch hier nur ein Bruchteil der initial eingeschlossenen Patienten am Ende des zweiten Jahres noch in der Studie befand. Von 1.493 Patienten, die im ersten Studienjahr Verum erhielten, schlossen nur 1.107 (74%) das erste Studienjahr ab. Nur 448 waren berechtigt bzw. bereit, die Medikation ein zweites Jahr lang weiter einzunehmen. Von diesen schlossen wiederum nur 371 das zweite Studienjahr ab. Unter der Dosis von 15 mg/d Phentermin plus 92 mg/d Topiramat erreichten 79% der Probanden nach zwei Jahren Einnahme eine Abnahme von ≥ 5% des Ausgangsgewichts. Eine Nachbeobachtung der Patienten, die im ersten Jahr die Studienmedikation erhalten hatten und im zweiten Jahr nicht mehr, fand nicht statt.

Die Zahlen erscheinen auf den ersten Blick etwas günstiger als in den Lorcaserin-Studien, sind aber bei genauerer Betrachtung ähnlich enttäuschend. Eine zweijährige durchgehende Einnahme des Appetitzüglers ist nicht anzuraten, und es ist unbekannt, wie sich das Gewicht nach Absetzen der Medikation verhält. Signifikant häufiger als unter Plazebo traten unter Phentermin 15 mg/Topiramat 92 mg zudem folgende UAW auf: Mundtrockenheit, Parästhesien, Obstipation, Dysgeusie, Schlaflosigkeit, Schwindel, Rückenschmerzen, Übelkeit, Verschwommensehen, Angststörungen, Reizbarkeit und Aufmerksamkeitsdefizite. Hinzu kommt noch das Teratogenitätsrisiko, das bei Frauen im gebärfähigen Alter einen sicheren Empfängnisschutz vorschreibt. Auch hier kann nicht von einem Durchbruch bei der Bekämpfung der Adipositas-Epidemie die Rede sein, der eine so rasche Zulassung rechtfertigen würde. Auch die Phentermin/Topiramat-Studien wurden alle vom Hersteller finanziert.

Fazit: Mit auffällig wenigen Daten aus Hersteller-unterstützten, randomisierten kontrollierten Studien zur Wirksamkeit und Sicherheit wurden von der FDA zwei neue Appetitzügler zugelassen: Lorcaserin und die Kombination Phentermin/Topiramat. Ihre Wirksamkeit erscheint längerfristig gering, und die Langzeitsicherheit ist ungewiss. Die Zulassung der Präparate durch die EMA ist beantragt, wird hoffentlich aber nicht erteilt.

Literatur

  1. Colman,E., et al.: N. Engl. J. Med. 2012, 367, 1577. Link zur Quelle
  2. Fidler,M.C., et al. (BLOSSOM = Behavioral modification and LOrcaserin SecondStudy for Obesity Management): J. Clin. Endocrinol. Metab. 2011, 96,3067. Link zur Quelle
  3. Smith,S.R., et al. (BLOOM = Behavioral modification and Lorcaserin for Overweightand Obesity Management): N. Engl. J. Med. 2010, 363, 245. Link zur Quelle
  4. O’Neil,P.M., et al. (BLOOM-DM = Behavioral modification and Lorcaserinfor Overweight and Obesity Management in Diabetesmellitus): Obesity (Silver Spring) 2012, 20, 1426. Link zur Quelle
  5. Gadde,K.M., et al. (CONQUER):Lancet 2011, 377, 1341. Link zur Quelle  Erratum: Lancet 2011, 377,1494.
  6. Allison, D.B., et al.(EQUIP): Obesity(Silver Spring) 2011, 20, 330. Link zur Quelle
  7. Garvey,W.T., et al. (SEQUEL): Am.J. Clin. Nutr. 2012, 95, 297. Link zur Quelle

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